Laudatio

zur Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Chemnitz an Herrn Siegmund Rotstein 16. Mai 2007


Es gilt das gesprochene Wort!

 

Sehr geehrter Herr Rotstein, sehr geehrte Frau Rotstein, sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages, des Sächsischen

Landtages und des Stadtrates Chemnitz,

sehr geehrter Herr Regierungspräsident,

sehr geehrte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der Stadt Chemnitz,

sehr geehrter Herr Aris, als Vertreter des Direktoriums des Zentralrates der Juden in Deutschland,

sehr geehrter Herr Landesrabbiner Dr. Almekias-Siegl,

sehr geehrte Frau Dr. Röcher,

sehr geehrte Mitglieder der jüdischen Gemeinden Chemnitz, Dresden und Leipzig,

meine sehr verehrten Damen und Herren,



die Verleihung der höchsten Auszeichnung unserer Stadt, die der Ehrenbürgerschaft, ist ein ganz besonderes Fest. Ich danke Ihnen, dass Sie meiner Einladung zu diesem Festakt gefolgt sind.
Der heutige Tag ist nicht nur ein besonders freudvoller, er ist auch ein überaus denkwürdiger. Ich bin sicher, dass er in die Geschichte unserer Stadt eingehen wird.

Aber nicht nur das. Er wird auch einen ganz besonderen Tag in der bald 125-jährigen Geschichte der Jüdischen Gemeinde unserer Stadt markieren. Und ich bin als Oberbürgermeisterin stolz darauf, dass der Chemnitzer Stadtrat die Verleihung dieser Ehrenbürgerschaft einstimmig trägt.


Das Ehrenbürgerrecht speist sich wie viele Bürgerrechte - aus den Ideen der Französischen Revolution.
Die ersten deutschen Städte, die einen ähnlichen Ehrentitel verliehen, waren um 1790 Saarbrücken, Frankfurt (Main) und Bremen. 1832 wurde in Leipzig dieser Titel erstmals verliehen. Bereits elf Jahre später wurde mit Felix Mendelssohn Bartholdy ein Jude Leipziger Ehrenbürger. Dies geschah zu einer Zeit, als es den Juden im Königreich Sachsen noch nicht gestattet war, sich auch in Chemnitz anzusiedeln.

Die aufgearbeitete Geschichte der Chemnitzer Ehrenbürgerschaften ist noch nicht geschrieben. Es fällt aber auf, dass zu den Ehrenbürgern unserer Stadt von Anfang an Unternehmer, Wissenschaftler und Kulturschaffende gehörten. Ich möchte hier nur die Namen der Fabrikanten Johann von Zimmermann (1885) und Hermann Vogel (1911) aufzählen.

Bis 1933 vervollständigten Sächsische Staatsminister und Kommunalpolitiker die Liste der Ehrenbürger. Erinnern wir uns heute zum Beispiel daran, dass gerade Dr. André nicht unerheblichen Anteil daran hatte, dass die "Bewegung zur Konstituierung einer [jüdischen] Gemeinde" in Chemnitz nach zähem Ringen 1885 doch noch von Erfolg gekrönt war. Dr. Beck, sein Amtsnachfolger als Oberbürgermeister, empfing Ende 1907 eine Delegation der Israelitischen Gemeinde, als er zum Sächsischen Kultusminister ernannt wurde.

Nur wenige Jahrzehnte waren vergangen, nachdem sich Juden und Jüdinnen in Chemnitz wieder ansiedeln durften, und ihre Repräsentanten waren willkommene und geachtete Mitglieder der Bürgerschaft. Sie erhielten die Bürgerrechte. In kurzer Zeit waren sie Teil der städtischen Gesellschaft geworden.

Die Chemnitzer Juden profitierten dabei einerseits vom kraftvollen Wirtschaftsaufschwung in der Stadt. Andererseits waren sie selbst ganz maßgeblich daran beteiligt. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts traten sie als Kultur- und Sozialmäzene auf.


In den Stiftungslisten zur Eröffnung unseres Opernhauses von 1909 und zur Einweihung des Neuen Rathauses von 1911 finden sich daher auch die Namen zahlreicher jüdischer Bürger. Damit untermauerten sie ihre Verbundenheit mit ihrer Heimatstadt und ihre aktive Anteilnahme an der Entwicklung von Chemnitz als Großstadt.

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde es dank des Engagements der Stadtverwaltung und der Landesbehörden über 1200 Leipziger und Dresdner Juden mit russischer Staatsangehörigkeit gestattet, vorübergehend in Chemnitz zu leben. Bei dieser Gelegenheit blieb auch eine größere Zahl von so genannten Ostjuden in Chemnitz. Weitere fühlten sich dadurch ermutigt, in den Folgejahren ihr Glück in unserer Stadt zu versuchen. Darunter befand sich, sehr geehrter Herr Rotstein, auch Ihr in Warschau geborener Vater.

Möglicherweise hätte es Kommerzienrat Louis Ladewig, einer Ihrer Amtsvorgänger, aufgrund seiner damaligen engagierten Entschlossenheit verdient, als erster Jude Ehrenbürger unserer Stadt zu werden. Doch ein tragischer Verkehrsunfall beendete 1921 das Leben dieses danach fast vergessenen Mannes.

Es sollten noch 80 Jahre vergehen, bis erstmals einem Mann jüdischer Herkunft die Ehrenbürgerschaft unserer Stadt verliehen wurde.
Viele von Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, erinnern sich ganz sicher so wie ich noch an den denkwürdigen Festakt am 2. Oktober 2001: An gleicher Stelle stand damals Stefan Heym im Mittelpunkt der Ehrung.

 

 

Sehr geehrter Herr Rotstein,
Ihnen zu ehren sind wir heute hier zusammengekommen. Ihr Leben und Ihr Lebenswerk steht exemplarisch und doch ganz individuell für rund acht Jahrzehnte jüdischen Lebens in Chemnitz.

Matthias Siegmund Rotstein wurde am 30. November 1925 in eine kinderreiche jüdische Familie in Chemnitz geboren. Er ist ein echter Sohn unserer Stadt, hineingeboren in die hoffnungsvoll-widersprüchliche Zeit der Weimarer Republik. Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg war gerade neuer Reichspräsident und Deutschland Mitglied des Völkerbundes geworden. Eine zunehmende Radikalisierung von rechts und links fand in den Köpfen der Menschen statt. Die Israelitische Religionsgemeinde zu Chemnitz hatte zu jener Zeit den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht.

Laut Volkszählung von 1925 bekannten sich rund 2800 Bürger unserer Stadt zur jüdischen Konfession. Doch auch die Gemeinde wurde von internen Auseinandersetzungen nicht verschont. Die aus den deutschen Provinzen stammenden, alteingesessenen Juden und die aus Ost- und Südosteuropa stammenden, oftmals sehr religiösen Juden standen sich gegenüber. Zwei verschiedene Welten prallten aufeinander.

Dennoch war der von beiden Seiten geachtete Rabbiner Dr. Hugo Fuchs voller Zuversicht, als er die Gesamtgeschichte der Chemnitzer Juden mit folgenden Worten zusammenfasste:
"So darf die Chemnitzer Judenheit voll Vertrauen in die Zukunft sehen. Mögen nur Not und Feindschaft nicht unerträglich werden! Dann wird sie voraussichtlich auch weiter ein lebendiges Glied der Judenheit bleiben."

Des Rabbiners Wunsch ging, wie wir heute wissen, nicht in Erfüllung. Not und Feindschaft wurden unerträglich. Ursachen dafür waren aber keineswegs die eigenen Probleme.
Dies musste Siegmund Rotstein sehr bald schon erleben. Kindheit und Jugend waren überschattet von Anfeindungen und Demütigungen. Ihnen sollten Entrechtung, Verfolgung, Vertreibung und schließlich der Verlust des Vaters in der Vernichtungsmaschinerie des nationalsozialistischen Systems folgen.

 

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Rotstein,
bitte gestatten Sie mir an dieser Stelle mit einigen Worten an ihren Vater zu erinnern.

Jankel Rotstein war zu Beginn des Ersten Weltkrieges als russischer Staatsangehöriger von der zaristischen Armee rekrutiert worden. Bereits im Herbst 1914 geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft. Von den Militärbehörden wurde er als Dolmetscher eingesetzt. Nach Kriegsende entschloss sich der 30-jährige nicht zur Rückkehr nach Warschau. Jankel Rotstein setzte seine Tätigkeit als Übersetzer zunächst fort, die ihn in der Folgezeit auch nach Chemnitz führte. Im Dezember 1920 ließ er sich endgültig hier nieder. Die russische Staatangehörigkeit wurde ihm aberkannt, für die polnische wollte er sich nicht entscheiden. Daher wurde er staatenlos. Mit raschem Erfolg handelte er mit Kurzwaren.

Zum beruflichen Glück gesellte sich bald das private: Im Februar 1924 vermählte er sich mit der Kriegswitwe Liddy Kittel. Die Eheleute zogen in das Haus Alexanderstraße 1, der heutigen Ludwig-Kirsch-Straße. In diesem Mietshaus spielte sich das Leben der Familie ab, die auf sieben Mitglieder anwuchs.

Auf dem Sonnenberg, einem traditionellen Arbeiterviertel, nahmen die sozialen Spannungen Ende der 1920er Jahre zu. Mit der Weltwirtschaftskrise verstärkte sich hier der Kampf zwischen der KPD und NSDAP um die politische Vorherrschaft.

So gab es auf dem Sonnenberg offene tätliche Auseinandersetzungen zwischen den Gruppierungen.Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten erfolgten insbesondere dort brutale politische Säuberungsaktionen. Im Frühjahr 1933 wüteten hier SA-Stürme und töteten zahlreiche Regimegegner. Der junge Siegmund Rotstein musste hautnah erleben, wie in unmittelbarer Nachbarschaft der bekannte Verleger und Sozialdemokrat Georg Landgraf erschossen wurde.

Er sah, spürte und fühlte, wie sich die Lage der Chemnitzer Juden zunehmend verschlechterte. Zu seinem 8. Geburtstag wurde es jüdischen Geschäftsinhabern verboten, beim Weihnachtsgeschäft christliche Symbole zu verwenden. Seit Ostern 1932 besuchte Siegmund Rotstein die Lessingschule auf dem Sonnenberg. Die Richtlinien für den Schulunterricht hatten sich aber grundlegend verändert. Erbkunde, Rassenkunde und Bevölkerungspolitik standen sehr bald im Mittelpunkt.

Die Nürnberger Gesetze vom September 1935 hatten gravierende Folgen für das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden. Siegmund Rotstein und seine Geschwister wurden plötzlich zu so genannten jüdischen Mischlingen. Nunmehr stand die endgültige so genannte "Rassentrennung der jüdischen von den arischen Schülern" auf der Tagesordnung. Ab Juni 1938 war er daher gezwungen, die eigens in Chemnitz gebildeten Jüdischen Sonderklassen in der Brühlschule zu besuchen. Wenige Monate später musste er erleben, wie 343 jüdische Männer, Frauen und Kinder mit polnischer Staatsbürgerschaft verhaftet und nach Polen ausgewiesen wurden. Plötzlich fehlten über 90 seiner Mitschüler! Kaum vorstellbar, wie all das auf einen Heranwachsenden wirkt, wie Entwicklung in dieser geistig-moralischen Not und Enge möglich sind.

Das Damoklesschwert der Ausweisung schwebte über der Familie Rotstein. Am 1. August 1939 teilte der Polizeipräsident der Familie mit, dass sie als Staatenlose binnen zweier Monate das "Reichsgebiet" zu verlassen hätte. Eine Zeit der Ungewissheit begann. Existentielle Ängste breiteten sich in der kleinen Wohnung in der Alexanderstraße aus. Erste Sachen wurden schon verschenkt, vor allem das geliebte Spielzeug der Kinder! Im Folgemonat brach der Zweite Weltkrieg aus und der Beschluss wurde zunächst ausgesetzt. Der Vater Jankel Rotstein wurde trotzdem als ein noch im Land verbliebener Jude mit ehemals polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet. Internierung und Deportation folgten. Und das einstige Glück, was Jankel Rotstein in Deutschland, in Chemnitz gefunden hatte, erlosch vollständig. Die unmenschlichen Verhältnisse im Warschauer Ghetto, die strengen Winter und die Trennung von der geliebten Familie zermürbten ihn.

Monate später erhielt Liddy Rotstein die Nachricht, dass ihr Ehemann am 13. September 1942 in Warschau gestorben ist. Es war wohl letztendlich die Unterernährung, die ihn nicht weiterleben ließ. Sehr geehrter Herr Rotstein,
der Zufall will es so, dass in wenigen Wochen in Gedenken an Ihren Vater ein Stolperstein vor dem Haus auf dem Sonnenberg verlegt wird. Ein Anstoß, um nicht zu vergessen, was nicht vergessen werden darf! Ein Anstoß um nicht aufzuhören, Fragen zu stellen!
1961 begann in Jerusalem der Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann.
 


Die Philosophin und Sozialwissenschaftlerin Hannah Arendt beobachtete diesen Prozess für das amerikanische Magazin "The New Yorker" und veröffentlichte darüber 1964 in Deutschland ihr viel diskutiertes und umstrittenes Buch "Ein Bericht über die Banalität des Bösen".
Hannah Arendt beschreibt:

- Die Taten der Kriegs- und Menschheitsverbrecher sind abstoßend, ungeheuerlich, unbegreiflich.
- Und doch sind die Täter gewöhnlich und durchschnittlich.

Und so stehen wir vor beängstigenden Fragen:
- Wie dünn ist der Firnis der Zivilisation?
- Wie stark ist das Menschliche in jedem von uns?
- Wo ist die Schranke, die den Einzelnen davon abhält, dass das Böse sich seine unheilvolle Bahn bricht?

 

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
kehren wir noch einmal in das Jahr 1938 zurück. Die fatalen Ereignisse der so genannten Reichskristallnacht hatten für den noch minderjährigen Siegmund Rotstein unmittelbare Folgen: Als er Ende November 1938 Bar Mizwa, Gesetzespflichtiger oder Gebotspflichtiger, werden sollte, konnte die Feier nicht stattfinden, weil die Synagoge am Stephanplatz wenige Tage zuvor gesprengt und abgerissen worden war. Damit konnte er nicht, wie gehofft, am öffentlichen religiösen Leben teilnehmen. Der Schritt in die Volljährigkeit verzögerte sich!

Die Lage der deutschen Juden verschlechterte sich immer mehr! Auch ihre Auswanderung gestaltete sich immer schwieriger. Dennoch oder gerade deswegen begab sich der mittlerweile 14 ½-jährige Siegmund Rotstein im April 1940 auf Hachschara (Ausbildung) nach Havelberg (Mark). Dort bereitete er sich als landwirtschaftlicher und gärtnerischer Praktikant in einem Lager der Jüdischen Jugendhilfe auf die baldige Auswanderung vor. Doch die Auswanderung wurde mehr und mehr zu einer Fiktion.

Seit September 1941 musste auch er den gelben Judenstern tragen. Nach der Auflösung des Landwerkes lebte er ein halbes Jahr in Berlin, wo er Hilfsarbeiten auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee und in einer Gärtnerei am Wannsee übernehmen durfte. Siegmund Rotstein ahnte nicht, dass im Januar 1942 fünfzehn führende Vertreter des Naziregimes in der Villa Am Grossen Wannsee, ganz in seiner Nähe, die so genannte Endlösung der Judenfrage beschlossen hatten.

Nachdem die Deportationen von Berliner Juden nach dem Osten immer häufiger wurden, kehrte er nach Chemnitz zurück.

Im April 1942 betrat er wieder sächsischen Boden. Nach zwei Jahren sollte er seine Mutter, Bruder Roland, Schwester Bella und Schwester Zilli wiedersehen. Schwester Marianne befand sich noch in einem Jüdischen Arbeitseinsatzlager.

Doch die drohende Deportation holte ihn bald ein. Ab Mai 1942 wurde auch in Chemnitz mit den Deportationen der Juden begonnen.

Kaum in seiner Geburtsstadt eingetroffen, wurde er zur Zwangsarbeit in der Beleuchtungskörper- und Metallwarenfabrik E. F. Barthel verpflichtet.

Als staatenloser Jude war er zudem gezwungen, sich täglich abends im Polizeipräsidium an der Hartmannstraße zu melden. Nach 1943 gehörte er zu den jüdischen Männern, die in der eigens geschaffenen Wehrabteilung gezwungen wurden, unmittelbar für die Rüstungsindustrie zu arbeiten. Hier musste er Hülsen für Panzerabwehrkanonen mit Nitrofarbe spritzen. Eine extrem gesundheitsschädigende Arbeit.

Am 14. Februar 1945 wurde Siegmund Rotstein mit 56 Leidensgefährten aus dem Regierungsbezirk, darunter seinem erst 12-jährigen Bruder Roland, in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Bereits am 9. Januar 1945 war Schwester Marianne dorthin verschleppt worden. Frieda Eckstein aus Lengenfeld im Erzgebirge, die ebenfalls diesem Transport angehörte, berichtete nach Ihrer Rückkehr in die Heimat von ihrer Ankunft in Theresienstadt: "Am 7. Februar 1945 erhielt ich durch die hiesige Polizei die Mitteilung, dass ich mich zum Arbeitseinsatz nach Theresienstadt einzufinden und am 13. Februar mit dem Frühzug 6 Uhr in Plauen bei der Gestapo zu sein habe. [...] Jeder musste sein Fahrgeld (11,80 RM) noch selbst bezahlen. Nachdem der Transport zusammengestellt war, ging es in [hohem] Tempo unter Kommando und Bewachung zum Bahnhof. Die Leute blieben zwar stehen und sahen uns mitleidig an, denn viele trugen ja den Judenstern und man wusste gleich, wer wir waren. Von Plauen bis Chemnitz ließ man uns so einigermaßen im Personenwagen. [...] Die Nacht [in Chemnitz] waren wir in der ehemaligen Akademie untergebracht, als Lager diente uns die Erde und [wir] bekamen so langsam einen Vorgeschmack von den Dingen, die da kommen sollten. Der schwere Terrorangriff auf Dresden am 13./14. [Februar] ließ uns hoffen, dass wir wieder zurück müssen, aber wir wurden eines Besseren belehrt. Am 14. Februar, früh um 6 Uhr wurden wir wie Schlachtvieh in Viehwagen verfrachtet.

 


Die Fahrt dauerte drei Tage, ohne Sitzgelegenheit, ohne Essen und Trinken. Ging mal ein Zug, so wurden unsere Wagen mit angehängt, sonst standen wir stundenlang auf totem Gleise und [waren] allen Bombenangriffen in fest mit Eisenstangen verschlossenen Wagen ausgesetzt. Trotzdem brachten sie uns noch nach Terezin, und als sich die Tore hinter uns schlossen, wussten auch wir, dass wir verloren sind, wenn uns nicht von irgendwelcher Seite Hilfe kommt. Die Aufnahme geschah in so schamloser Art und Weise, vor allem für uns Frauen. Das Geld wurde uns restlos abgenommen, ebenso der Schmuck, manchem sogar die Trauringe. Jeder hatte Angst vor der SS und ihren großen Hunden. Manche Frauen wurden auch noch geschlagen. Auch sahen wir [...] die politischen Häftlinge, die von ganz jungen Bengels mit MG bewacht und von diesen geschlagen wurden."

 


Siegmund Rotstein überlebte.
Er war im Ghetto Theresienstadt Kohlenträger, später folgten Einsätze in dem Abbruch- und Tiefbaukommando. Er überlebte auch die dort ausgebrochene Typhusepidemie.

Nach der Befreiung durch die Rote Armee wurde das Ghetto vorübergehend unter Quarantäne gestellt. In dieser komplizierten Zeit übernahm er freiwillig Kranken- und Leichentransporte. Als Zwanzigjähriger durchleidet, erlebt und überlebt er das und endlich naht die tatsächliche Befreiung!
Am 9. Juni 1945 treffen die drei Geschwister mit einem von der Chemnitzer Stadtverwaltung nach Theresienstadt geschickten Bus in ihrer zerbombten Heimatstadt ein.
All diese Erlebnisse prägten nachhaltig sein Bewusstsein und seine humanistische Weltanschauung!

Siegmund Rotstein gehörte zu den wenigen Überlebenden der alten Israelitischen Religionsgemeinde, die nach Chemnitz zurückgekehrt waren.

Im September 1945 zählte er zu den nur noch 18 Juden und Jüdinnen in Chemnitz, die einen Neuanfang wagten. Sie gründeten die Jüdische Gemeinde Chemnitz. Aus der Literatur wissen wir, dass diese Gemeinden oftmals eigentlich als Liquidationsgemeinden errichtet wurden.

Ignaz Bubis, der langjährige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, erinnerte beim Abschied vom zweiten Jahrtausend, dass die Mehrheit der Gemeindemitglieder auf gepackten Koffern saß. Und dies oftmals über einen Zeitraum von 20 Jahren!

 


Wie und warum in diesem Land weiterleben? Nach all dem, was geschehen ist.

Auch Siegmund Rotstein überlegte damals ernsthaft, ob er seiner Schwester Marianne in die USA folgen sollte. Doch er entschied sich anders. Er blieb in Chemnitz. Nach Kriegsende erlernte Siegmund Rotstein zunächst das Handwerk eines Herrenschneiders bei einem Chemnitzer Maßschneider. Im April 1948 legte er voller Stolz die Gesellenprüfung ab.

Und bald fand er auch die Frau fürs Leben. Im September 1950 heiratete er seine Marianne. Über ein halbes Jahrhundert verbindet die beiden nun schon. Und wer sie etwas näher kennt hat den Eindruck, sie wissen um das Glück dieses Zusammenseins.

Nach mehreren weiteren Qualifizierungen übernahm Siegmund Rotstein Aufgaben im Großhandel, zunächst im genossenschaftlichen, später im staatlichen. Nach 1965 übernahm er leitende Funktionen bei den hiesigen CENTRUM Warenhäusern. Als Jude hatte er somit in den ehemals jüdischen Kaufhäusern, Tietz und Schocken, Verantwortung. Dort war er Abteilungsleiter für Herrenkonfektion und zuletzt stellvertretender Fachdirektor Handel für den Verkauf. 1986 trat er in den wohlverdienten Ruhestand, jedoch nur beruflich.

 

 

Hohe Festversammlung!
Wir ehren heute mit Siegmund Rotstein den Mann, der sich mit Leidenschaft und Engagement dem jüdischen Gemeindeleben in unserer Stadt widmete.

Von 1966 bis 2006 war er Vorsitzender der hiesigen Jüdischen Gemeinde, die nach der Auflösung der Jüdischen Gemeinde Plauen zur Heimat für die Juden des damaligen Bezirkes Karl-Marx-Stadt geworden war. Damit stand er in beeindruckender Kontinuität zu seinen Vorgängern in diesem Ehrenamt. Zu Hans Kleinberg, Max Abel, Albert Epstein und Siegbert Fechenbach, um nur die Nachkriegsvorsitzenden zu nennen.

Ein verkürzter Rückblick auf diesen langen Zeitraum, immerhin vier Jahrzehnte, verdeutlichen die beeindruckenden Verdienste des heute zu ehrenden Mannes.
Seit 1959 gehörte der parteilose Siegmund Rotstein dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Karl-Marx-Stadt an. Zwei Jahre später wurde er in den Beirat des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR gewählt.

Nach dem unerwarteten Tod von Hans Kleinberg, dem bisherigen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Karl-Marx-Stadt, ernannte ihn der Vorstand im Januar 1966 zu dessen Nachfolger. Keine leichte Aufgabe! Zwar kam ihm seine mehrjährige Erfahrung im Vorstand zugute, dennoch erforderte das Amt Geschick, Geduld, Konsequenz und letztlich auch Ausdauer und Toleranz. Er konnte damals eine gut funktionierende Gemeinde übernehmen, die sein Amtsvorgänger vor dem Untergang bewahrt hatte.

Als Siegmund Rotstein begann, die Geschicke der Jüdischen Gemeinde zu lenken, war er für die Belange von lediglich 22 Mitgliedern verantwortlich. Als Vorsitzender wurde er 1969 auch zu einem der beiden Vizepräsidenten des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR gewählt.
Dass er die Jüdische Gemeinde vertrat, zählte zu den selbstverständlichen Aufgaben eines Vorsitzenden.

Dass es ihm immer wieder gelang, die Jüdische Gemeinde mit ihrer leidvollen Geschichte - ja bis in die jüngste Gegenwart hinein - wieder in das Bewusstein der Bürger dieser Stadt zu holen, war sehr viel mehr als nur Routinearbeit.

Siegmund Rotsteins ehrenamtliche Tätigkeit als Vorsitzender wurde von der Karl-Marx-Städter Stadtverwaltung unterstützt. Insbesondere der damalige Oberbürgermeister Eberhard Langer stand der Entwicklung der Jüdischen Gemeinde sehr aufgeschlossen gegenüber.

Siegmund Rotstein war als Gemeindevorsteher von Anfang an ein Mann des öffentlichen Lebens. Er übernahm sofort eine "öffentliche Rolle", wie diese hervorgehobene Stellung in der Gesellschaft vom Soziologen Richard Sennett in den 1970er Jahren treffend bezeichnet wurde.

Als Überlebender der Shoa war er zudem ein von allen Seiten geachteter Zeitzeuge, und ist es bis heute. Er trat in Schulen und Kirchgemeinden, vor Schriftstellern und Ärzten auf und sprach über die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der Juden.

Er unterstützte diesbezügliche Ausstellungen und Publikationen. So war es nur eine Frage der Zeit, dass der ehemalige KZ-Häftling im Mai 1988 die Ehrenmedaille der Gedenkstätte Theresienstadt (Terezin) erhielt.

Siegmund Rotsteins Engagement bei der Vorbereitung der Vorhaben in unserer Stadt anlässlich des 50. Jahrestages des Gedenkens an die Pogromnacht vom 9. November 1938 wird dauerhaft in Erinnerung bleiben.

So wurden auf seine Initiative hin am Stephanplatz eine Gedenkstele für die Alte Synagoge und im Innenhof der Technischen Universität ein Gedenkstein für die deportierten Chemnitzer Juden errichtet.

Siegmund Rotstein wurde am 13. März 1988 auf einer Tagung des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR zu dessen Präsidenten gewählt. Eine neue schwierige Aufgabe, die sich durch eine weitere historische Zäsur bald erledigen sollte. Am 10. November 1988 wurde Siegmund Rotstein zum Präsidenten des Internationalen Kuratoriums "Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum" berufen.

In dieser Eigenschaft begleitete er anfänglich den langwierigen Prozess der Wiedererrichtung der Neuen Synagoge, der letztlich erst im Mai 1995 zum Abschluss gebracht werden konnte.

Die politische Wende der Jahre 1989/90 bedeutete die Aufnahme des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR in den Zentralrat der Juden in Deutschland. Daraufhin wurde der nunmehr 65-jährige Siegmund Rotstein im August 1990 zum Vorsitzenden des neu gebildeten Landesverbandes Sachsen-Thüringen gewählt. In dieser Eigenschaft wurde er in das Direktorium des Zentralrates der Juden in Deutschland entsandt. Besondere Unterstützung erhielt er damals von den Vorsitzenden Heinz Galinski und Ignaz Bubis.

Bei den Vorstandswahlen im Januar 2002 trat Siegmund Rotstein aus gesundheitlichen Gründen nicht wieder für das Amt des Vorsitzenden an, war aber weiterhin im Präsidium vertreten. Bis zu diesem Jahr gehörte er als Gründungsmitglied auch dem Rundfunkrat des MDR an.

Die deutsche Wiedervereinigung bedeutete auch, dass die Jüdische Gemeinde Chemnitz dem drohenden Schicksal der Auflösung oder Selbstauflösung entging. Nach 1990 begann ein zunächst unerwarteter Zustrom von jüdischen Familien, die aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einwanderten. Siegmund Rotstein setzte von Anfang an all seine Kraft dafür ein, die Herausforderungen, die mit der Integration der Zuwanderer in das Gemeindeleben und ihrer sozialen Integration verbunden waren, zu bewältigen. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass die Jüdische Gemeinde Karl-Marx-Stadt im Wendejahr 1989 zwölf Mitglieder zählte. Aber vielleicht hat er ja dabei auch an seinen Vater gedacht.

Gemeinsam mit der Stadt Chemnitz bemühte sich Siegmund Rotstein auch beharrlich um den Bau einer Neuen Synagoge. Bei der Erfüllung dieses Traumes wurde er besonders von Dr. Peter Seifert, meinem Amtsvorgänger, vorbehaltlos und voller Leidenschaft unterstützt! Auch der Chemnitzer Stadtrat stand engagiert zu diesem Anliegen.

Im Mai 2002 war es soweit. Die Neue Synagoge wurde geweiht. Die Jüdische Gemeinde in Chemnitz besaß nach fast 65 Jahren wieder eine Synagoge. Dazu ein beeindruckendes Gemeindezentrum! Damit wurde zu Beginn des neuen Jahrtausends endlich wieder jüdisches Leben in unserer Stadt, in unserer Region richtig möglich. Siegmund Rotstein betrachtete dies selbst als Krönung seines Lebenswerkes und sagte später mehrfach in Interviews: "Ein Stück Gerechtigkeit wurde wieder hergestellt!" Die Jüdische Gemeinde mit ihren mittlerweile 600 Mitgliedern bereichert das Lebens in unserer Stadt. Es werden wieder Juden in Chemnitz geboren, welch ein Glück, das heute hier so sagen zu können!

Ein halbes Jahr nach der Weihe der Synagoge erschien das Buch "Juden in Chemnitz". Ein wichtiges Buch für unsere Stadt. Jüdische Geschichten und Geschichte in Chemnitz. Auch in dieser Hinsicht gebührt Siegmund Rotstein das Verdienst, dass er von Anfang an dieses für eine Jüdische Gemeinde in den Neuen Bundesländern einmalige Vorhaben unterstützte. Ein Werk, an dem er selbst mit einem Aufsatz über den "steinigen Weg des Neubeginns nach 1945" beteiligt ist.

Im August 2003 wurde Herr Roststein mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Neben dieser hohen Würdigung sollte jedoch auch nicht der Friedenspreis der Stadt Chemnitz ohne Erwähnung bleiben, den Siegmund Rotstein im März 2006 für sein hervorragendes Lebenswerk erhielt. Dieser noch sehr junge Preis wird bekanntlich für Ideen, Initiativen und Projekte vergeben, die ein gewaltfreies Miteinander fördern und unterstützen, für Grundwerte wie Toleranz, Demokratie und Friedfertigkeit eintreten sowie gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus Position beziehen. Mit all diesen Attributen lässt sich Siegmund Rotsteins Lebenswerk beschreiben.
Elie Wiesel, Überlebender von Auschwitz und Friedensnobelpreisträger, hat einmal gesagt:

"Kämpfen Sie niemals gegen die Erinnerung. Der Mensch ist fähig zu wissen, was in der Vergangenheit geschah, und wozu er imstande ist; er ist fähig zur Verantwortung."


Meine sehr geehrten Damen und Herren,
in seiner Sitzung beschloss der Stadtrat am 14. März 2007 einstimmig, Siegmund Rotstein in Anerkennung der großen Verdienste um die Bewahrung jüdischen Lebens in Karl-Marx-Stadt / Chemnitz und seines langjährigen verdienstvollen Engagements in unserer Stadt, die Ehrenbürgerschaft zu verleihen!

Sehr geehrter Herr Siegmund Rotstein,
im Namen der Bürgerinnen und Bürger der Stadt Chemnitz übertrage ich Ihnen, dem bedeutenden Zeitzeugen und langjährigen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, die Ehrenbürgerschaft unserer Stadt.

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