Chemnitzer Zeitzeugen: Gisela Altendorf
Foto: Igor Pastierovic
"Wir waren im Schutzraum verängstigt. Die vielen Menschen. Da war Panik. Und dann kam Wasser. Eine Leitung war gebrochen. Alle schrien: Wir müssen hier raus! Aber oben waren die Flieger."
Gisela Altendorf war zum Kriegsende 12 Jahre alt. "Ich wünsche das keinem. Oft kommen bei mir die Bilder wieder, das Feuer, das Wasser und die Schreie - Wir müssen raus hier. - Ich kann nicht im Kino mitten unter Leuten sitzen. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Frieden fällt nicht vom Himmel. Dafür muss man kämpfen."
„Ich lebte mit meiner Familie - Eltern und der elf Jahre jüngeren Schwester Karin - im Walkgraben 27a.“ Bis zum 5. März 1945. Das war eine Wohnanlage mit mehreren Häusern. Wohnküche, Schlafzimmer, Kinderzimmer, sogar Innen-WC. Die Häuser hatte Strumpf-Fabrikant Esche bauen lassen. Seine Fabrik ist heute eine der ältesten erhalten gebliebenen der Stadt.
„Ich hatte eine schöne Kindheit. Wir spielten Theater, im Winter fuhren wir Schlitten auf dem kleinen Berg, den man heute noch am Walkgraben sieht. Bis dann der Krieg anfing.“ Vater Friedrich arbeitete in einer Spezialfabrik, die Flugzeugräder herstellte. Er musste nicht an die Front. Mutter Hertha war Hausfrau. „Das war damals hart.“ Gisela lacht. „Windelberge mussten gewaschen werden, dann auf dem Waschbrett geschrubbt. Heute ist das anders …“
An den ersten Bombenangriff kann sie sich erinnern. Elf amerikanische B17-Bomber warfen am 12. Mai 1944 über Rabenstein 26 Tonnen Bomben ab. Sie fielen in der Nähe von Zweifamilienhäusern. Ein Säugling starb. Es war der erste Chemnitzer Bombentote dieses Krieges. „Meine Tante wohnte dort, sie hatte Glück, wurde nicht getroffen. Es gab dann eine Völkerwanderung dort raus, alle wollten die Bombentrichter sehen.“
Wie war der Alltag im Krieg? „Schul-Gesetz war damals: Wenn der Fliegeralarm bis 22 Uhr ging, hatten wir früh eine Stunde später Unterricht. Wenn er bis Mitternacht ging, waren es zwei Stunden. Da haben wir im Luftschutzkeller gesessen und gehofft, dass es spät wird heute. Wir waren halt Kinder.“ Doch es wurde immer schlimmer. Tagbombenangriffe folgten, Wasser und Strom fielen aus. „Und unser Haus war nicht unterkellert. Wir mussten raus bei Fliegeralarm und in leer geräumte unterirdische Lagerräume rennen. Die hatte die Firma Esche für den Luftschutz vieler Menschen bereitgestellt.“
Dann kam der 5. März. „Da war tagsüber schon ein Fliegeralarm. Wir wollten uns gerade zum Abendessen setzen, da gab es Voralarm, der aber gleich in Alarm überging (Sonst hatte man etwa 15 Minuten Zeit. / Anm. d. R.). Als wir rausliefen, da standen schon die „Christbäume“ (Anm.: Leuchtmarkierung der Bomber) am Himmel. Wir schafften es mit Müh und Not in den Lagerschutzraum, da ging es auch schon los.“ Bomben fielen. Sie kann sich noch genau erinnern: Das Donnern ließ die Türen eines Fahrstuhls, der nach unten führte, zusammenschlagen. „Mein Vater ist dann raus und hat geguckt. Als er wiederkam sagte er, unser Haus steht nicht mehr, da sind Luftminen rein und Sprengbomben. Und später noch Brandbomben. Wir waren im Schutzraum verängstigt. Die vielen Menschen. Da war Panik. Und dann kam Wasser. Eine Leitung gebrochen? Alle schrien: ‚Wir müssen raus!‘“ Aber oben waren die Flieger … Als die Bomber weg waren, kamen die verängstigten Menschen gerade noch dazu, um von der zerstörten Goethestraße aus zu sehen, wie ihre Häuser brannten. „Wir standen da mit dem, was wir auf dem Leib hatten. Und konnten froh sein, mit dem Leben davon gekommen zu sein. Aber es war das schrecklichste Erlebnis meines Lebens.“
Wohin sollte nun die Familie mit zwei Kindern? „Wir sind zur Tante nach Rabenstein gelaufen, dann kam auch meine andere Tante, die auf dem Kaßberg ausgebombt worden war. Später liefen alle hoch ins Erzgebirge, nachts schliefen wir in Gaststätten, wo Stroh aufgeschüttet war. Wir bekamen Brot und Marmelade.“ Schließlich landete die Familie in Lichtenstein. „Dort trafen wir eine Frau aus Gablenz, die hatte beide Kinder bei Luftangriffen verloren.“
Die letzten Kriegstage: Erst kamen die Amerikaner, dann die Russen. „Und dann kam das Drama danach … der Hunger, die Kälte, es gab ja kein Heizmaterial. Wir saßen als Familie in einem kleinen Zimmer an einem Herd, in Decken eingehüllt, eine Kerze auf dem Tisch.“ Am 1. Mai 1946 zog die Familie zurück nach Chemnitz in die Limbacher Straße. Essen gab es oft nur für die Kinder, die Eltern trieb der Hunger aus der Küche raus. „Wir gingen Kartoffen stoppeln und Ähren lesen.“ Die Stadt war voller Trümmer. „Die Innenstadt weg, da waren mal alles enge Gassen rund ums Rathaus rum. Gegenüber, dort wo heute Kaufhof ist, da war ein Kino am anderen.“
Für Gisela war es schlimm damals. „Ich wünsche das keinem. Oft kommen bei mir die Bilder wieder, das Feuer, das Wasser und die Schreie ‚Wir müssen raus hier!!!‘. Ich kann nicht im Kino mitten unter Leuten sitzen. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Ich muss an den Rand.“ Sie macht eine Pause. „Frieden fällt nicht vom Himmel. Dafür muss man kämpfen.“
Mit 18 ging Ursula Altendorf als Lehrerin nach Berlin. Erst Grundschule, dann Mathe in der Mittelstufe. Sie kam erst vor ein paar Jahren zurück. In ihre Heimat? „Heute ist Chemnitz für mich eine neue Stadt.“