Chemnitzer Zeitzeugen: Dieter Gründel
Foto: Franziska Kurz
Ich war damals im März 1945 neun Jahre alt und habe die beiden Bombenangriffe am 3. März 1945 11:00 Uhr und am 5. März 1945 20:30 Uhr mit meiner Familie erlebt.
Zur Familie gehörten damals meine Mutter, meine Oma (mütterlicherseits), mein Vater (an der Ostfront), mein Bruder Klaus und ich sowie meine Oma und Opa väterlicherseits mit einem Sohn und einer Tochter sowie weiteren drei Söhnen (die alle im Krieg standen: mein Vater an der Ostfront, sein Bruder in Stalingrad und ein weiterer Bruder in Norwegen).
Den ersten Bombentag am 3. März 1945 erlebten wir in Altchemnitz, Krenkelstraße 6, und überlebten als einzige drei Bewohner einen Volltreffer in unser Haus. In einer dramatischen Situation hatte ich die heranfliegenden Bomber erkannt und alle im Haus, auch meine Mutter aus unserer Erdgeschosswohnung und meinen Bruder nach der sogenannten Vorentwarnung wieder in den Luftschutzkeller gerufen. Im Keller angekommen, knieten wir uns sofort hin, es folgte ein Krachen und absolute Finsternis hüllte uns in nur ein paar Sekunden ein. Nach einiger Zeit verzog sich der Rauch durch das Kellerfenster. Eine Tischplatte lag schräg vor dem Fenster. Die Splitterschutzbetonblöcke hatte die Druckwelle abgekippt und aus einem etwa 20 cm breiten Spalt schob mich meine Mutter und zogen mich zwei Nachbarn, die herbeigeeilt kamen, aus dem Keller. Später wurden noch mein Bruder und meine Mutter über dieses Fenster gerettet.
Bei diesem Angriff starben im Haus acht Menschen und ein schwer verletzter Bewohnerwurde Stunden später aus den Trümmern gerettet. Wir drei erhielten Unterschlupf bei den Großeltern auf der Bernd-Rosemeyer-Straße (jetzt Scheffelstraße). Auf dem Grundstück des Fuhrunternehmers Paul Kühn gab es ein Hintergebäude mit einer Wohnung für die Großeltern und, was wichtig für uns war, einen alten Möbelanhänger in dem die Rettungskräfte unsere Wohnungsreste hinschafften.
Meine Mutter hatte keine Ruhe mehr, weil die Stadtoma stark asthmakrank war und alleine in der Stadt auf der Turnstraße / Ecke Bernsdorfer Straße (Eckhaus mit Fleischerei) im vierten Stock lebte. So wurde beschlossen, dass meine Tante Marianne uns: meine Mutter, Bruder Klaus und mich am 5. März mittags mit dem Schlitten und ein paar Habseligkeiten von Altchemnitz, an der alten Ziegelei vorbei, über die Bahnlinie, Chemnitz-Einsiedel, und die Felder zur Reichenhainer Straße, Luther- und Bernsdorfer Straße bringen sollte.
Es war ein sehr mühsamer Weg, weil es zwischenzeitlich sehr stark geschneit hatte. Die Tante ging, nachdem sie uns abgeliefert hatte, sofort wieder zurück. Sie wollte ja im Hellen wieder zu Hause in Altchemnitz sein. Die Stadtoma schickte mich zur Fleischerei im Erdgeschoss mit Marken und Geld und ich bekam dann von der freundlichen Fleischersfrau etwas Wurst. Zwischenzeitlich war es finster geworden. Am Abendbrottisch saßen wir vier alle versammelt, als dann der „Voralarm“ kam.
Zügig haben wir unser „Sturmgepäck“ und jeder eine Decke aufgenommen. Wir sind in den Keller gegangen. Dort hatten sich die Hausbewohner versammelt und harrten der Dinge, die dann auch nicht lange auf sich warten ließen. Die Häuser in der Bernsdorfer und Lutherstraße wurden alle getroffen. Bei dem Versuch aus dem Keller zu flüchten, kam uns schon der brennende Phosphor entgegen. Wieder zurück im Kellergang standen 200 l Fässer mit Wasser. Wir steckten die Decken dort rein und zogen sie uns voll gesaugt über den Kopf. Dann flohen wir durch die Mauerdurchbrüche in das erste Nachbarhaus weiter in das zweite Haus. Die Keller waren schon jahrelang mit den Durchbrüchen verbunden.
Im dritten Aufgang strömten dann die Menschen ins Freie. Meine asthmakranke Oma musste stehen bleiben, um Luft zu holen. Unsere Mutter blieb bei ihr und rief uns zu: „Wartet mal!“, was wir aber nicht hörten. Wir drängten weiter auf die Lutherstraße hinaus. In dem brennenden Inferno verloren wir uns. Ich floh dann mit den vielen Menschen über die Reichenhainer Straße, über Erfenschlag bis zur Zschopauer Straße und dort nach Kleinolbersdorf. Vor dem Gasthof stand der Wirt und verteilte die ankommenden Flüchtlinge in die Häuser. Zu mir sagte er „Kleiner, mach dich rein in die Gaststube!“, wo mich offensichtlich die Wirtin aufnahm, mir die nasse Decke vom Körper zog und mich auf den großen Kachelofen zum Aufwärmen schickte.
Mein Bruder Klaus erzählte mir später, dass er über die Bernsdorfer Straße Richtung Zschopauer Straße gegangen ist und in einem nicht zerstörten Haus Unterschlupf gefunden hat. Er wurde dann am 6. März in die Brühlschule, ein eingerichteter Sammelpunkt für die Ausgebombten, geschafft. Meine Mutter ist mit ihrer Mutter, asthmakrank, in einer beschwerlichen Flucht auf dem gleichen Weg wieder zurück nach Altchemnitz gegangen. Dabei waren ihr noch das Gebrüll der wilden Zirkustiere, die in der Ziegelei Winterquartier hatten, als Begleitung im Gedächtnis geblieben.
In Altchemnitz hatte sie sich dann am 6. März mit meinem Opa aufgemacht, um uns, Klaus und mich, in der völlig zerstörten und noch brennenden Stadt zu finden. Erst am Freitagvormittag machte sie jemand darauf aufmerksam, dass mit Kreide an der Wand des zerstörten Hauses an der Lutherstraße der Hinweis stand, dass Klaus in der Brühlschule sei. Natürlich nahm sie ihren Jüngsten froh in die Arme und ging mit ihm nach Altchemnitz in die heutige Scheffelstraße, immer weitersuchend, wo Ihr Dieter ist.
Ich habe bis Montag, eine Woche nach dem Angriff, in Kleinolbersdorf in dem Gasthaus gelebt. Der Chef, offensichtlich Bürgermeister, fuhr täglich nach Chemnitz mit seinem Pritschen-Opel und hat mich dann am Montag mitgenommen. Er lieferte mich mittags bei meiner Gründel-Oma (väterlicherseits) an der Scheffelstraße ab. Natürlich war die Freude groß, als meine Mutter von ihrer erfolglosen Suche nach mir wieder zurück kam.
Zum Schluss möchte ich nur noch bemerken, mit welcher Hochachtung ich an diese vielen Menschen denke, die diese schwere Zeit überstehen mussten. Immer wieder stand im Raum „Nie wieder Krieg!“.