Chemnitzer Zeitzeugen: Renate Hähle

Als ich 1940 geboren wurde, war der Krieg schon im Gange. Ich wuchs mit den Worten „Krieg“ - „Bomben“ - „Front“ auf und hörte sie in meinem kindlichen Umfeld viel zu oft. Der Bruder meiner Mutter Heinz war gefallen. Ich weiß nicht, wo und kann auch keinen mehr danach fragen. 1943 fiel mein Papi bei Sewastopol auf der Krim, also in Russland. Meine Mami hatte mit mir abends immer ein Gebet gesprochen: „Lieber Gott, mach mich fromm, lass den Papi wiederkommen“. Er kam nicht zurück und ich kann mich nur an weinende schwarzgekleidete Frauen um mich erinnern. Als es mir zu viel wurde, soll ich zu meiner Mami gesagt haben: „Morgen weinst Du aber nicht mehr, denn morgen ist ein neuer Tag.“ Sie erzählte mir später, dass sie das zum Lebensmotto für sich genommen hatte.

Vor dem 5. März begannen auch in Chemnitz Angriffe und viele Leute, wir waren dabei, sahen sich die Bombeneinschläge neugierig und mit innerer Angst an. Einschläge waren an der Krankenkasse Müllerstrasse und an der Kaßbergstrasse. Wir wohnten auf dem Schloss in der Rießnerstrasse in einer kleinen einfachen Wohnung im Haus meiner Großeltern väterlicherseits. Nur meine Großmutter lebte noch und mein Onkel Paul (Bruder meines Vaters) mit seiner Frau Liesbeth wohnten neben uns. Mit den Nachbarskindern spielten wir „Krieg“ und packten unsere Puppen und Spielsachen in das Hinterhaus unseres Wohnhauses. Dadurch wurde mein Puppenwagen dann auch vom Feuer verschont.

Auf den Straßen lagen zeitweise Staniolstreifen -  wir nannten es Silberpapier, die wir einsammelten. Sie waren von Flugzeugen abgeworfen worden, um den Funkverkehr zu stören und für die Zielgenauigkeit der Bombenabwürfe.

Es war öfter Alarm und die Sirenen heulten schrecklich. Ich weckte meine Mami und wurde schnell angezogen. Und mein Onkel Paul holte mich ab und wir waren zu meiner Freude stets die ersten im Keller. Nach und nach kamen die anderen Hausbewohner und voller Angst warteten wir auf die „Entwarnungssirenen“. Mir wurde ein Brustbeutel mit der Adresse von Tante Else und meinem Geburtsdatum umgehängt, falls ich verlorengehen würde. An unserem Radio trafen sich abends (ich weiß nicht um welche Zeit, für mich war es immer spät sobald es draußen dunkel war) Onkel Paul, Tante Liesbeth und Mami und hörten – ganz leise natürlich, denn es war bei Strafe verboten – den Sender aus London. Von dort wurden die nächstfolgenden Bombenangriffe angekündigt.

Dresden war schon in Schutt und Asche gefallen. Meine Tante Else in Adelsberg hatte den Feuerschein von Dresden von Chemnitz aus gesehen. Ihr Haus steht auf dem Berg und man hatte gute Sicht. So wussten wir also, dass der Angriff auf Chemnitz bevorstand.

Tante Else wollte uns zu sich auf den Berg holen, doch meine Mami wollte keinesfalls aus ihrer kleinen bescheidenen Wohnung weg. Sie hatte vorgesorgt und Federbetten, Geschirr und alles was man so für wichtig hielt in unser Hinterhaus gebracht. Genauso, wie wir Kinder es immer gespielt hatten.

Als ich abends in Bett gebracht wurde, war ich bis auf meinen Wintermantel und die Mütze vollständig angezogen, damit es schnell gehen konnte, wenn es soweit war. Ich schlief ein und für mich war es mitten in der Nacht (21.00 Uhr) als die Sirenen heulten. Ich glaube meine Mami hatte gar nicht geschlafen, denn sie wusste ja, was uns bevorstand. Mein Onkel Paul holte mich wie immer ab und alle versammelten sich im Keller.

Das Schlimmste für mich war, wenn die Gasmasken aufgesetzt werden mussten. Ich habe geweint und mich schrecklich gefürchtet, wenn die vertrauten Gesichter um mich herum hinter den fürchterlichen Masken verschwanden.

Meine Mami quälte mich nicht damit. Sie band mit feuchte und in Essig getränkte Tücher vor Nase und Mund, die mich vor Gas oder Staubwolken schützen sollten und so das Überleben sicherten. Es waren furchtbare Geräusche um uns als die vielen (man spricht von Hunderten) Flugzeuge im Anflug waren. Es krachte und zischte und es war schlimmer als das schlimmste Gewitter. In der Innenstadt mussten schon viele Bomben gefallen sein.

An diesem Abend tauchte plötzlich mein Matthess-Opa bei uns auf. Der war hauptamtlich bei der Feuerwehr. Man hatte die Feuerwehrleute weggeschickt, da sowieso ein Einsatz ohne Erfolg und Sinn gewesen wäre. Er wusste, dass wir ihn brauchen könnten. Er holte dann noch Mamis Nähmaschine aus unserer Wohnung im ersten Stockwerk. Er war ein kräftiger Mann und plötzlich flog oder schwebte mein Opa samt der Nähmaschine. Und der Kellertür die Kellertreppe zu unserem kleinen Häuflein ängstlicher Menschen herab. Der Luftdruck trug ihn. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung. Dann krachte es fürchterlich und das ganze Haus bis in den Keller bebte. „Jetzt hat es eingeschlagen bei uns“ - an diese Worte der Erwachsenen erinnere ich mich genau. Nun mussten wir schnellstens aus dem Keller, denn keiner wusste, wann das Haus einstürzt oder Brandbomben, Phosphorbomben oder was weiß ich, in den Keller fielen.

Wie wir auf die Straße kamen, weiß ich nicht. Ich war ein kleines Kind und schlief übermüdet immer mal wieder ein.  Dann standen wir auf der Straße gegenüber von unserem Haus. Es schneite ein bissel und Schneematsch lag auf den Straßen. Wir sahen unser Haus brennen. Ich weiß nicht, was die anderen neben mir machten und sagten. Ich sah nur wie gebannte in die Flammen. Der ganze Straßenzug brannte. Jede Dachschicht hob sich nacheinander ab. Die Dachziegel, die Dachpappe, die Dachsparren. Alles flog wie von Geisterhand gehoben in die Höhe und in den Flammen war es plötzlich weg. Es war geisterhaft. Auf den Straßen und Fußwegen lagen Brandbomben. Meine Mutter hatte einen Sportkinderwagen für mich bereitgestellt, um auf der Flucht besser voranzukommen. Doch der war weg als wir ihn brauchten. Sie trug mich wie ein Bündel unter dem Arm und wir wollten zur Luisenschule in den Keller. Da kamen die Tiefflieger, die schossen in all die kleinen Straßen auf alles, was sich bewegte. Meine Mutter musste über Brandbomben steigen und am Luisenplatz krochen wir unter eine Parkbank, um vor den Tieffliegern sicher zu sein. Wahrscheinlich war mein Großvater mit bei uns, doch ich erinnere mich nicht. Nur meine Mami war mir wichtig und bei ihr fühlte ich mich sicher. Die Geräusche der Flugzeuge und brennenden Häuser waren schlimm. Ich weiß nicht mehr, wann wir die Luisenschule erreichten und wie spät es dann war.

Wir sind dann irgendwann weitergewandet durch die Nacht in Richtung Glösa oder Borna. In einer Siedlung dort wohnte ein Bekannter (Mitarbeiter in Onkel Wolfgangs Betrieb) – der Herr Clemens. Dort kamen wir unter und blieben. Ich weiß nicht wie lange.

Irgendwann machten wir uns auf den Weg zu Tante Else nach Adelsberg. Ein vollbeladener Handwagen, meine Mami, mein Opa und ich. Der Kinderwagen hatte sich wieder vor unserer Hausruine eingefunden und Opa und Mami hatten schon noch ein paar eingelagerte Sachen in Sicherheit gebracht. Ich glaube, wir sind mit hunderten anderer Bürger der Stadt einen ganzen Tag marschiert über die Reichenhainer Straße in Richtung Adelsberg. Die Innenstadt war unpassierbar und durch Trümmerhaufen, die noch tagelang brannten, völlig zu.

Mein Großvater hatte inzwischen erkundet, dass sein Haus in der C.-v.-Ossietzky-Straße noch stand. Ein riesiger Bombentrichter mit einer riesigen Bombe vor dem Haus machte die Bewohnbarkeit dieses Hauses erstmal unmöglich. Wir fanden dann bei Tante Else in Adelsberg eine Unterkunft.

Ich weiß nur, dass meine Mami oft in die Stadt zu unserer Ruine musste, um ihre Sachen zu holen. Es wurde ja auch geplündert und geklaut. Ich wollte ja immer mit ihr mit und hing ihr am „Rockzipfel“. Sie sagte mir dann immer, dass die Stadt noch brennt. Das war der einzige Grund, dass ich nicht mit ihr mitgehen wollte.

Das war der 5. März 1945 für mich.

Dann begann die Nachkriegszeit. Doch das ist ein anderer Teil der Geschichte. Ich erinnere mich an Berge von Weißkraut vor den wenigen Läden, an die Schlangen vor den Trinkwasserabgabestellen, an Arbeitseinsätze zum Ziegelputzen, an die Russen, die in endlosen Schlangen mit Pferd und Wagen die Zschopauer Straße hinauszogen. Ich erinnere mich, dass man meine 14-jaehrige Cousine Anita im Heu bei Nachbarn verstecken musste und dass ich als Kind den Russen Wasserkrüge für ihre Pferde und Soldaten bringen musste. Es war ja bekannt, dass Russen kinderlieb sind und mir konnte als 4-jaehrige nichts passieren.

Alles was ich aufschrieb, werde ich nie vergessen. Ich finde auch solche Worte wir „Bombenwetter“ und ähnliches nicht gut und verwende sie nicht. Denn in unserer Stadt war damals kein „Bombenwetter“, sonst hätten die Bomben nicht unsere Häuser, sondern die Hartmannfabrik (Rüstungsbetrieb) getroffen.

Woher Frauen, wie meine Mutter, die Kraft für den Wiederbeginn nahmen ist mir rätselhaft. Aber sie liebten das Leben und das Wenige, was ihnen noch geblieben war und natürlich uns Kinder.

Hier hat die Zeitzeugin ihre Geschichte erlebt:

Zeitzeugen-Broschüren

Die letzten Zeugen

Die letzten Zeugen

Als das alte Chemnitz im Bombenhagel starb


Der ewige März

Titelbild der Broschüre

Erinnerungen an eine Kindheit im Krieg

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