Chemnitzer Zeitzeugen: Ursula und Gottfried Heiner
Foto: Igor Pastierovic
Ursula und Gottfried Heiner verbrachten bis zum 5. März 1945 ihre Kindheit im Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg. Sie sind seit 59 Jahren verheiratet. Beide sind sich einig: „Wir wollten unsere Geschichten erzählen, damit sich nachfolgende Generationen das Unvorstellbare etwas vorstellen können. Lieber nur trocken Brot essen, nur ein Bett, einen Schrank, einen Tisch haben. Aber nie wieder Krieg!“
Beide sind Kinder das Sonnenbergs: Gottfried Heiner (84) und seine Ursula (80). Er wuchs in der Palmstraße auf, sie in der Fürstenstraße. Damals wie heute waren das 900 Meter Fußweg. Doch beide kannten sich nicht. Vielleicht sah Heiner seine Ursula, als der Elfjährige am Körnerplatz vorbeilief und sie als Sechsjährige Huppekästel spielte. Oder als Ursula sich auf der Fürstenstraße vor rasenden Radlern in Sicherheit brachte, vor denen ihre Mutter sie immer gewarnt hatte. Szenen, die auch heute noch so ablaufen könnten. Vielleicht kam Ursula mit ihrer Mutter auf dem Weg zum Zeisigwaldbad auch an der Lessingschule vorbei und Gottfried kam nach dem Unterricht herausgesprungen? Damals jedenfalls, am Vorabend des 5. März 1945, waren sich die beiden noch egal gewesen. Und als die Bomben fielen, trennten sich ihre Wege.
Gottfried Heiner: „Es hatte geschneit. Am Abend kam Fliegeralarm. Wir hörten ihn hier mit diesem Radio.“ Er zeigt auf eine dunkle Holzkiste in der Wohnstube. „Nora“ heißt der Empfänger: „Er brachte Fliegeralarm und immer traurige Musik.“ Heute funktioniert er nicht mehr. Es ist ein stummer Zeuge, der in der Küche blieb, als die fünfköpfige Familie am 5. März in den Keller flüchtete: Der kriegsversehrte Vater, Mutter, Gottfried und Geschwister. „Ich war warm eingepackt, hatte eine Decke drüber.
Als die Einschläge kamen, kamen die Erinnerungen an einen früheren Angriff. Da hatte ich Schreie der Verschütteten aus dem Nachbarhaus gehört. Ich zog die schwere Decke über den Kopf und wollte nur noch, dass es aufhört.“ Das Pfeifen, das Bersten.
Über ihnen zog der endlose Strom britischer und kanadischer Lancaster- und Halifax-Bomber dahin, klinkte die tödliche Fracht aus.
In der Fürstenstraße saß zur gleichen Zeit Ursula mit ihrer Mutter, dem Großvater und dem Bruder im Schutzkeller. Vater war an der Ostfront. Ursula mit Leibchen, Pulli, Jacke, hatte einen Pappkoffer mit Habseligkeiten dabei, bisschen Zwieback drin: Sie erinnert sich: „Es krachte, Putz rieselte. Ich hatte Angst. Mutti nahm mich in den Arm und schützte mich.“ Erst am Morgen ging Großvater raus. Als er wieder in den Keller kam, sagte er: „Wir haben kein Zuhause mehr.“ Die Vorderfront war eingestürzt. Ursula: „Es sah aus wie ein Puppenhaus mit freiem Blick auf den Bahnhof.“
Gottfried hatte den Angriff unbeschadet überstanden, im Haus fehlten Türen und Fenster. „Im Nachbarhaus Palmstraße 10 war eine Sprengbombe explodiert. Ich sah damals das erste Mal Leichen. Sie lagen im Vorgarten.“ Auf dem Schlossberg karrte Gottfrieds Großvater seinen toten Bruder im Handwagen zum Schlossfriedhof.
Beide Familien verließen Chemnitz. Vielleicht sogar im selben Flüchtlingstreck? Zu Tausenden flohen die Menschen aus der zerstörten Stadt. Ursula ging mit ihrer Mutter, dem Großvater und ihrem Bruder nach Rathendorf „Dort hatten wir ein Zimmer. Es gab zu Essen.“ Lauter geflüchtete Schlesierkinder, „die sprachen anders, man verstand sie nicht.“ Am 5. Mai wurde ihr Vater
in Berlin erschossen. Drei Tage vor der Kapitulation. Auch von ihren Jugendfreunden blieben viele Väter im Krieg, erfuhr sie, als die Familie später wieder in Chemnitz war. „Nur einer kam aus der Gefangenschaft wieder, der sah aus wie ein Gespenst. Begreifen kann man das nicht. Das musste man hinnehmen.“
Gottfrieds Familie war nach Erdmannsdorf geflüchtet. Auch zu einem Bauern. „Zwei Mal gingen wir noch nach Chemnitz zurück, wollten Sachen holen. Auf der Augustusburger Straße draußen kamen Tiefflieger.“ Auch das überstand der Elfjährige.
Die Wege von Gottfried und Ursula trafen sich 1957 in einem Chor. Vier Jahre später war Hochzeit. Ursula arbeitete als Erzieherin. Gottfried wurde Neulehrer. Er baute schließlich das Ebersdorfer Schulmuseum auf und ist dort heute noch Ehrenvorsitzender.
Hier haben die Zeitzeugen ihre Geschichte erlebt:
Zeitzeugen-Broschüren
Der ewige März
Foto: Stadt Chemnitz
Erinnerungen an eine Kindheit im Krieg
Die letzten Zeugen
Als das alte Chemnitz im Bombenhagel starb