Chemnitzer Zeitzeugen: Roland Kaden
Am 25. Januar 1937 wurde ich als Kind einer Arbeiterfamilie mit insgesamt 5 Kindern in der Industriestadt Chemnitz geboren. Im Krieg und noch lange danach wohnte ich mit noch drei Geschwistern „am Fuße des Sonnenbergs", Sonnenstraße 5, unmittelbar am Dresdner Platz. Mein Vater, Jahrgang 1901, wurde 1943 direkt an die Front in Richtung Stalingrad eingezogen. Sein Tod war somit früh besiegelt und er kehrte zur Familie nach Hause nie wieder zurück. Meine Mutter trug nun ab 1945 für vier Kinder bzw. Halbwaisen die alleinige Verantwortung. Sie gab uns Kindern in den Kriegsjahren eine große Unterstützung, insbesondere auch bei den Luftangriffen und Bomben-Vergeltungsschlägen. Meine etwas ältere Schwester Anita wohnte nicht mehr in der elterlichen Wohnung, ihre Unterstützung fehlte aber überall.
Der 5. März 1945 gestaltete sich am Abend und in der Nacht für alle Hausbewohner, ältere Senioren und Kriegsverletzte, Frauen und Mütter mit Kindern, zu einem erschütterten und qualvollen „Erlebnis“. „Tannenbäume“ erleuchteten am Abend den Himmel und wurden wenig später von einem dröhnenden näherkommenden Brummen begleitet. Nach Heulen der Sirenen kam es bereits zu ersten Einschlägen in unmittelbarer Nähe unseres Hauses. Sprengbomben schlugen in der Sonnenstraße 9 ein. Danach begann ein fürchterliches Intermezzo. Luftmienen, Phosphor-, Spreng- und Brandbomben entluden und entzündeten sich und färbten den Himmel feuerrot. Die Häuser begannen zu zittern, als würde die Erde beben. Die Kinder im Keller der Bäckerei Carl Mühle umringten ihre Mütter und schrien um Hilfe, diese blieb jedoch aus. Die Kellerwände zum Nachbarhaus 3 und 7 wurden von Frauen durchbrochen und auch ein freier Durchgang zum Hinterhof geschaffen. In unmittelbarer Nähe folgte eine Kette von fürchterlichen Einschlägen. Unser Haus zitterte und schaukelte.
In Eile begab sich, wer konnte, aus dem Keller auf die Straße um die Ecke zum Dresdner Platz. Uns erwartete jedoch ein fürchterlicher Anblick. Freiberger und Dresdner Straße in Richtung Goldener Anker, Johannes-Platz und Waisenstraße, nur wenige hundert Meter von uns entfernt, standen in einem „lodernden Flammenmeer“. Asche verunreinigte die Luft. Das Zentrum der Stadt war von einem „Fegefeuer erfasst“. Die Glut saugte jeglichen Sauerstoff auf. Es herrschte eine unheimliche Wärme, begleitet von einer stürmischen Hitzewelle, Glutpartikel, laute Einsturzgeräuschen und um Hilfe schreienden Menschen. Hilferufe kamen aus den ganz naheliegenden lichterloh brennenden Häusern der oberen Freiberger Straße, wo Häuser und Straße von einer Feuerbrunst umgeben wurden und nicht mehr begeh- bzw. betretbar waren. Wir flohen schnell in unser Haus zurück. Die Häuser der Sonnenstraße 3-7 hatten beträchtlich gewankt, aber standgehalten. Alle waren wieder froh, im Keller und der Backstube der Bäckerei Mühle zu sein. Scherben und Trümmerteile ringsum waren zu verkraften, aber Feuer bedeutete in diese Nacht größtenteils den Tod. So ein fürchterliches Ereignis, in wenigen Minuten erlebt, vergisst man nie und bleibt für immer im Gedächtnis.
Am späten Morgen des 6. März hatten alle „Insassen" im Keller der Bäckerei Mühle die Hölle er- und überlebt. Das Haus Sonnenstraße 5 und beide Nachbarhäuser 3 und 7 überstanden „wie ein Wunder" den unmittelbaren Bombenhagel. Zahlreiche Brandbomben in den Hinterhöfen und auf den Schuppendächern konnten sich wegen zu großer Schneemengen offensichtlich nicht entzünden und entpuppten sich als Blindgänger. Dies war unser großes Glück. Erschöpfungszustände hielten jedoch bei allen Beteiligten, ob jung oder alt, über Wochen und Monate an. Aus dem gemeinsam Erlebten entstand ein achtungsvolles Verhältnis untereinander und soziales Miteinander für die nachfolgenden Jahre. Auf die Wiedergabe von weiteren Vorkommnissen in der Bombennacht und unmittelbar danach, die ich als 8-jähriger mit noch drei Geschwistern erlebte, wird aber hier verzichtet und ein Schlusszeichen gesetzt.
Meine Mutter war am 5. März 1945 45 Jahre alt und wir Kinder 5, 8, 10 und 11. Unser Vater konnte uns nicht mehr beistehen. Er erlebte an der Front 1943/44 in Stalingrad selbst noch Krieg und grausames Elend und auch in wenigen Minuten „seinen Feuer-Tot“, wie unsere Mutter von einem überlebenden und schwer verwundeten ehemaligen Kriegskameraden 1947 später erfuhr. Ein Lebenszeichen über die Feldpost blieb bereits seit Oktober 1943 aus.
Nach dem soeben geschilderten und erlebten Intermezzo begann nun in Chemnitz der gemeinsame Kampf um das Über- bzw. Weiterleben. Wir waren umgeben von Trümmer und Ruinen. Das Stadtbild wurde über Wochen von Trauergemeinschaften geprägt, auf den Friedhöfen war „Hochbetrieb“. Erste Trümmer-Brigaden kamen zum Einsatz. Die Bereitstellung von Lebensmittelkarten für die Chemnitzer Einwohner lief nur langsam an und funktionierte zögerlich. Besonders schwer hatten es wieder alleinstehende Mütter mit mehreren Kindern. In unserer Familie musste sich z.B. unsere Mutter nun noch aufs Land zu den Bauern begeben, um noch nicht gebrauchte bzw. neue Bettwäsche, Hand- und Geschirrtücher u.a. Textilien für Butter, Mehl, Kartoffeln, Eier, Speck sowie Gemüse einzutauschen. Mit noch 4 Kindern zu Hause allein gestellt war sie aus finanziellen Gründen nun noch gezwungen, täglich stundenweise einer bezahlbaren Arbeit nachzugehen. Wir Kinder übernahmen nun selbstständig einige Aufgaben. Meine Schwester Sigrid trug die Verantwortung für das Organisieren der Einkäufe, z.B. bei der Fleischerei Burkard, der Bäckerei Mühle im Hause, der Molkerei Drechsler schräg gegenüber und zum Fischgeschäft Seifert im Nebenhaus. Diese Geschäfte befanden sich in unmittelbarer Nähe und eventuelle Warenlieferungen konnten außerhalb der Schulzeit schnell registriert werden. Wir drei Jungen übernahmen die Verantwortung für Kohlen und Holz. Ausgestattet mit Rucksäcken sammelten wir täglich im Bahngelände der Reichsbahn unter der Großbrücke Dresdner Platz, trotz großer Gefahren, von Lokomotiven verlorene Briketts und Steinkohle auf. Das benötigte Holz holten wir aus dem naheliegenden Zeißigwald, Abfallholz stand reichlich zur Verfügung. Lieferungen von Rüben und Kartoffeln im Herbst 1945 trugen zur Linderung der großen Not bei. Mit der nun zunehmend stabileren Bereitstellung von Lebensmittelmarken 1946 verbesserte sich schrittweise die Versorgung. Kinderreiche Familien ohne Vater lernten in den Kriegsjahren bei der Ernährung bereits eine große Bescheidenheit kennen und waren diese längst gewohnt. Unsere Familie mit fünf bzw. später mit 4 Kindern gehörte dazu. Solidarität war in dieser Zeit kaum angesagt.
Persönlich vertiefte sich bei mir deshalb bereits als Kind nach dem Krieg und Bombenangriff am 5. März 1945 auf Chemnitz mit den erlebten tragischen und nicht nachvollziehbaren Härten für kinderreiche Familien in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit immer mehr die Erkenntnis; Der größte Teil der deutschen Bürger und Bevölkerung wurde selbst zum Opfer der bestialischen Hitler–Diktatur, diktiert von einer installierten NSDAP und grausamen SS sowie Gestapo-Herrschaft. Millionen Deutsche verloren in der Zeit des Faschismus ihr Leben. Männer starben an der Front, in Lazaretten oder in Gefangenschaft. Verweigerer zum Kriegsdienst wurden umgehend standrechtlich erschossen oder in Konzentrationslager und Zuchthäuser gesperrt. Vor allem im letzten Kriegsjahr und nach Kriegsende starben weitere Millionen Deutsche durch Bombenhagel, Vertreibung, Flucht. Hunger u. Krankheit, darunter wieder vor allem wehrlose Frauen, zahlreiche Kinder und ältere Menschen. Eine objektive und historische Tatsachenaufarbeitung in Gedenken an die Millionen Toten sollte hier niemals versäumt werden. Dazu gehören auch die Zusammenhänge zum Machtantritt von Adolf Hitler mit der anschließenden Errichtung seiner menschenverachtenden faschistischen Diktatur. Die Ereignisse und Entwicklungen in Deutschland Ende der 20-ziger Jahre und Anfang der 30-Jahre führten schließlich zum Ende der Weimarer Republik, zum Machtantritt von Adolf Hitlers und Beginn des III. Deutschen Reiches. Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht am 1. September 1939 auf Polen begann ein fürchterlicher Weltkrieg, verbunden mit einem ebenso fürchterlichen Ende und der Niederlage der faschistischen Hitlerdiktatur. Der vom Hitler-Faschismus begonnene Weltkrieg kehrte 1945 nach Deutschland mit aller Härte, verbrannter Erde, großem Elend und nochmals mit Millionen Opfer und Toten zurück.