Chemnitzer Zeitzeugen: Karl Keller
Foto: Igor Pastierovic
"Wir dachten, jetzt trifft uns eine Bombe. Das lässt sich nicht beschreiben. Diese Todesangst! Wir wussten von Leipzigern, wir müssen den Mund aufmachen, die Druckwellen können sonst die Lungen zerreißen. Da haben wir uns Klammern in den Mund gesteckt."
Karl Keller wurde 1935 geboren. Er lebte in Schönau und war neun Jahre alt, als der schlimmste Angriff auf Chemnitz erfolgte.
Karl Keller wurde 1935 geboren. Er lebte in Schönau, Peter-Mitterhofer-Straße 8 und war neun Jahre alt, als der schlimmste Angriff auf Chemnitz erfolgte.
Vater Kurt arbeitete in den Wanderer-Werken, deshalb lebte die Familie auch in der dortigen Siedlung. Karl Keller erinnert sich an die Ansprache Hitlers anlässlich des Angriffs auf Polen: „Übers Radio teilte er mit seiner schnoddrigen Stimme mit, dass jetzt zurückgeschossen werde. Meine Eltern hatten den Ersten Weltkrieg erlebt. Da war uns klar, dass etwas Schlimmes auf uns zukommt.“ Was damals niemand wusste: Es sollte seinen geliebten Bruder Helmut treffen.
Helmut hatte Dreher gelernt, dann ging er zum Reichsarbeitsdienst. Mit 17 kam er zur Wehrmacht. 1945 im Oderbruch geriet er in sowjetische Gefangenschaft. Ein Brief gelangte im Winter 45/46 noch zur Familie: „Liebe Eltern und Geschwister, mir geht es soweit gut, nur die Suppe könntebesser sein, Euer Helmut“ Es war sein letztes Lebenszeichen. „Er ist nicht wiedergekommen“, sagt Karl. Tränen steigen ihm in die Augen.
Zurück ins Jahr 1939: Vater Kurt war uk, also unabkömmlich. Er war Mitglied der NSDAP. Verteilte Lebensmittelkarten als Blockleiter. Er arbeitete als hochspezialisierter Automateneinsteller, war deshalb nicht an der Front. Die Automaten wurden mechanisch programmiert. Was denkt Karl heute über seinen Vater? „Jeder Mann war irgendwie mit dem Krieg verbunden. Entweder als Soldat draußen musste er sich wegschießen lassen von Leuten, denen er nichts getan hatte. Oder andere umbringen, die ihm nichts getan hatten. Und in Chemnitz musste man auch mithelfen. Das war damals normal. Ich bin in der Wanderer-Siedlung aufgewachsen. Wenn Hitler Geburtstag hatte, gab es kein Fenster, wo keine Fahne raushing. Es war eine einzige Flut. Die waren nicht alle in der NSDAP. Aber die Fahne haben sie rausgeholt. Denn du musst mitmachen, sonst überlebst du das möglicherweise nicht.“
Er erinnert sich an die ersten Bombardements: „Chemnitz ist überall dort bombardiert worden, wo Menschen waren. Da kam mir der Verdacht, dass es nicht beabsichtigt war, die Industrieanlagen zu zerstören, sondern die Menschen umzubringen, die in der Industrie, in der Kriegsproduktion tätig waren. Die Nazis haben es mit England auch so gemacht. Der Krieg war zurückgekommen.“ Angriffe waren Alltag. Gewöhnlich zwischen 22 Uhr und Mitternacht. Da gab es die Luftlagemeldungen: „Feindliche Bomberverbände im Anflug.“ Erst auf Leipzig, Merseburg, Halle. „Ja und dann war auch Chemnitz mit dran“, sagt Karl. „Wenn die Sirene losging, stand ich im Bett und war steif. Schwester Lisa musste mich anziehen.“
5. März. Es schneite. Eine schöne, weiße, glatte Schneedecke lag. „Abends zwischen 7 und 8 bin ich ins Bett. Dann gingen die Sirenen. Ich steif, Lisa zog mich an, dann in den Keller. Ältere Männer, Frauen und Kinder waren dort. Die Flugzeuge gingen tiefer, Planquadrate wurden mit ‚Christbäumen‘ (Anm.: Zielmarkierung der Bomber) abgesteckt“, erfuhr Karl Keller später. „Und dort haben die die Bomben reingeschmissen. Da haben wir damit gerechnet, es könnte unsre letzte Stunde sein. Wie das gekracht hat. Hauswände haben bis in die Grundmauern gezittert. Wir sind zusammengekrochen und dachten jeden Moment, jetzt trifft uns eine Bombe. Das lässt sich nicht beschreiben. Die Todesangst! Wir wussten von Leipzigern, wir müssen den Mund aufmachen, Druckwellen können sonst die Lunge zerreißen. Da haben wir uns Klammern in den Mund gesteckt. Dann war irgendwann Ruhe. Keinen Treffer abbekommen. Wir sind raus, sahen den blutroten Himmel, der sich in der Schneedecke spiegelte. Flammen züngelten, es knisterte. Mutter sagte: ,schaurig-schön‘.“
„In der Innenstadt war alles wegrasiert. In der alten Gartenstraße stand noch was.“ Die Schornsteine der Häuser waren meistens stehen geblieben, ragten in den Himmel. Chemnitz war eng bebaut gewesen. „Nur Schmalspurbahnen konnten fahren, für breite Spuren war kein Platz gewesen. Alles war jetzt weg.“
Chemnitz kam nach der Kapitulation langsam auf die Beine. „Es wurde zum Beispiel eine Feldbahn zum Flugplatz rausgelegt. Hinterm Ikarus-Flugfeld war ein Abbruch. Dort ist viel vom Trümmerschutt rausgefahren worden. Die ersten Straßenbahnen verkehrten wieder von Schönau in die Stadt. Da sind wir Kinder feste hin und her gefahren. Fenster waren mit Brettern zugenagelt, es gab ja kein Glas. Man war letztlich erstaunt, dass die Stadt trümmerfrei war.“ Karls Vater musste mit aufräumen. An der A4 die gesprengte Autobahnbrücke aufbauen. „Da holten sie ihn in seiner Freizeit.“
„Ich bin jetzt 83. Viele meiner Zeitgenossen sind schon weg. Es werden immer weniger, die drüber berichten können. Ich halte es für wichtig, dass das, was wir erlebt haben, nicht vergessen wird.“