Chemnitzer Zeitzeugen: Sigrid Klemm
Foto: Igor Pastierovic
"Als die Hölle vom Himmel fiel, spie die Stadt Feuer. Ihr Herz verbrannte. Der Blick gefror, als sie ihr Gesicht verlor. In Schutt und Asche gebettet, Tote und Lebendige am blutigen Morgen."
Sigrid Klemm war am 5. März 1945 vier Jahre alt. „Ich war damals wie gelähmt. Es war die Urangst ums Leben. Das weiß man auch als Kind. Wenn man das erlebt hat, weiß man, das Leben ist sehr wertvoll und es kann schnell vorbei sein. Ich habe ja gedacht, es regnet Blut vom Himmel."
Sigrid Klemm war am 5. März 1945 vier Jahre alt. Sie wohnte in der Zöllnerstraße 17. Ein süßes Mädchen mit Locken, Schmollmund und großen Augen. Wer in diese Augen blickte, sah die Fragen, das Nicht-Verstehen dessen, was um sie herum war: Krieg! Was passiert mit meiner Stadt? Mit meiner Mutter? Wo ist mein Vater? Und was sind das für Sirenen …?
Die heulten auch abends an jenem Märztag, der das Schicksal von Chemnitz so bestimmen sollte. Manches hat sie in Gedichten aufgearbeitet. „Ich war Einzelkind. Das habe ich immer bedauert. Mit zwei Jahren bekam ich eine Puppe geschenkt. Ich nannte sie Monika. Sie musste immer mit in den Keller, vier Stockwerke runter. Sie war eine Freundin.“
Am 5. März hatte ihre Tante den Wohnungsschlüssel verloren, sie ging trotz Fliegeralarms nochmal in die Großbäckerei Brotunion in der Kalkstraße, wo sie arbeitete. „Doch sie fand den Schlüssel nicht und kam zu uns in die Zöllnerstraße 17. Das rettet ihr das Leben, erfuhren wir später.“ Denn nebenan in ihr Haus schlug eine Bombe rein. „Ich saß im Keller an der Wand zum Nachbarhaus. Gesichter der Nachbarn blass, in sich gekehrt, Angst, düsteres Licht, modriger Geruch. Die Einschläge kamen immer näher. Das war so dumpf, das grollte. Dieses
Geräusch hat mich beten lassen. Ich habe die Hände in einer Rockfalte versteckt, damit es niemand sieht, und habe gemurmelt ,Lieber
Gott lass uns nicht von einer Bombe treffen, beschütze uns. Amen‘. Dann ein Pfeifen, eine Explosion. Die Wand, an der ich saß, hat plötzlich reingedrückt in den Keller. Ich bin geflogen, auf weichen Leibern gelandet. Habe eine nasse Decke übern Kopf bekommen, ein Mann nahm mich mit raus. Der Himmel war voller Glut.“ Wenn die Erinnerung kommt, kommen die Tränen.
Viel später entstand ihr Gedicht „Überlebt“: „Das Haus explodierte ... Draußen brannte der Himmel. Mein kleiner Körper im Schutz nasser Decken getragen von zitternden Armen durch den Feuersturm der brüllenden Stadt. Glühende Luft mitten im Winter.“ Erst nach 70 Jahren konnte sich Sigrid Klemm ein Herz fassen und schreiben, was ihr in der Nacht vom 5. zum 6. März 1945 widerfuhr. Sieben Jahrzehnte hatte es gedauert.
„Ich war damals wie gelähmt. Es war die Urangst ums Leben. Das weiß man auch als Kind. Wenn man das erlebt hat, weiß man, das Leben ist sehr wertvoll und es kann schnell vorbei sein. Ich habe ja gedacht, es regnet Blut vom Himmel. Ich wusste doch nicht, was los war. Ich hatte Riesenangst vor den Trümmern. Bei einem Haus in der heutigen Straße der Nationen lagen die Treppen frei. Möbel standen noch, die Vorderfront war weg. Der Handtuchhalter war noch an der Wand. Ich habe mich damals schon gefragt, ob die Leute überlebt hatten.“
Fast auf den Tag genau 74 Jahre später: Sigrid steht vor ihrem Elternhaus in der Zöllnerstraße, betastet voller Ehrfurcht die Wand. „Hier dahinter saß ich, als im Nachbarhaus die Bombe einschlug. Ich darf hier stehen, das freut mich. Ich bin dankbar, überlebt zu haben. Ich habe auch meinen Vater wiederbekommen, er war in Sibirien, hatte die linke Hand erfroren. Wir wohnten nah am Bahnhof. Vater ist hin, wenn die Kohlezüge kamen, sammelte er Briketts ein.“
Dass ihre Mutter das alles miterleben musste, berührt Sigrid Klemm sehr: Ihr und den anderen tapferen Frauen hat sie das Gedicht „Kriegsmütter“ gewidmet. Sie liest es vor: „Die Wehen trieben sie zu Fuß in die Klinik. Mit Koffer, sie verlor das Fruchtwasser und wurde beschimpft für ihr spätes Kommen. Zwischen ihren Schmerz und dem Heulen der Sirenen brachte sie ihr Kind zur Welt. Sein Schrei machte sie glücklich. Müde betrachtete sie das Wunder. Kein Mann der sie abholte, Vater kämpfte an der Front. Weder Bus noch Taxi. Doch das Haus stand noch, als sie mit ihrem Bündel Leben nach Hause kam. Der Hunger nagte, ihr Baby schrie, Sirenen bestimmten die Nächte von Mutter und Kind. Immer das Nötigste griffbereit zur Flucht in den Keller. Kriegsmütter. Danke, Mutter!“