Zeitzeugin: Renate Aris
Sie hatte immer ein bisschen Glück
Renate Aris ist eine der letzten Überlebenden des Holocaust in Sachsen. Immer wieder erzählt sie ihre Lebensgeschichte. Sie sagt: »Ich bin ein Mensch, der keine Angst hat.«
Wenn man einen Menschen nach dem prägendsten Erlebnis seiner Kindheit fragt, kommt vielleicht der erste Urlaub am Meer oder das liebste Haustier herausgesprudelt. Bei Renate Aris ist das anders: »Als die Synagogen brannten«, sagt die 88-Jährige geradeheraus.
Die Pogromnacht am 9. November 1938, als in Deutschland Synagogen angezündet, jüdische Geschäfte und Privatwohnungen geplündert und viele Juden verhaftet wurden, war eine Zäsur im Leben der dreijährigen Renate. »Das war die Freigabe der Juden zum Freiwild.«
Ein einschneidendes Erlebnis, an das sich weitere fügen sollten. Renate Aris ist eine der letzten Menschen in Sachsen, die den Holocaust überlebt haben. Mehr als 20 ihrer Familienmitglieder wurden in Konzentrationslagern umgebracht oder sind auf Todesmärschen umgekommen. Einige sind verschollen.
Vor verschiedenen Gruppen aus allen Teilen der Gesellschaft – von der Kirchgemeinde bis zur Universität – spricht sie über ihr Leben, allein Jugendliche von weit über 500 Schulen haben ihr zugehört. »Das ist ganz wichtig. In allen Bevölkerungskreisen, vom kleinen Schulkind bis zum Herrn Professor: Das Unwissen über Nationalsozialismus und Holocaust ist beängstigend.«
»Tja, sie haben nicht getroffen.«
Geboren wurde Renate Aris in Dresden, im August 1935, am gleichen Tag wie Honecker, erzählt sie und lächelt verschmitzt. Sie wächst in Briesnitz auf, in einer Stimmung der Schikane, die in Feindseligkeit gipfelt. »Kindheit hatten wir nicht – aufgrund der ganzen Pogrome.« Schon zuvor war Juden die Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Es folgte ein Verbot nach dem anderen, sukzessive wurden Menschen jüdischen Glaubens aus dem öffentlichen Leben gedrängt: Sie durften weder ins Theater noch ins Kino gehen, sich nicht einmal im Park auf eine Bank setzen. »Es kam immer etwas Anderes hinzu«, sagt Renate Aris. Selbst Fahrräder mussten sie abgeben. »Das war für uns Kinder schwierig. Wir durften nichts. Und das Schlimmste war: Ab 1941 durften wir nicht mehr in die Schule gehen.«
Es folgten Berufsverbote, das Tragen des gelben Sterns ab 1941. Ab dem Jahr muss ihr Vater Zwangsarbeit leisten. »Die Umstände waren furchtbar«, erinnert sich Renate Aris an ihren dauer-müden Vater. Doch die Mutter arbeitet beim Gemüsehändler, so fällt der ein oder andere Kohlkopf mehr für die Familie ab. Längst sind Lebensmittelkarten die neue Währung, die jedoch mit dem Stempel »Jude« praktisch wertlos sind. Noch dazu, da in Geschäften nicht mehr an Juden verkauft werden durfte.
Doch ist Renate Aris nicht verbittert. »Glücksumstand« oder »Wir hatten Glück«, das sagt sie oft. Etwa, wenn sie erzählt, wie sie – verbotenerweise beim Spielen mit anderen Kindern – beim Tiefflieger-Alarm mit ihnen in ein Haus flieht und dort auf einen älteren Mann trifft. »Ich sehe ihn noch vor mir, langer Rauschebart.« Er erblickt ihren Stern, packt sie am Kragen, schmeißt sie auf die Straße und sagt: »Dich können sie ja wohl erschießen.« »Tja«, sagt Renate Aris heute. »Sie haben nicht getroffen.«
Ebenso die Tatsache, dass es nicht mehr dazu kam, dass ihre Mutter nach der Hochzeit zum Judentum konvertiert, und die Familie daher bis zuletzt nicht in ein Judenhaus umziehen musste. Die anderen Parteien im Mehrfamilienhaus duldeten das. »Wir hatten Glück.«
Und dann erlebt Dresden den Angriff vom 13. Februar 1945. In der Wohngegend der Familie wird kaum ein Haus zerstört, doch die Stadt brennt. Es ist Faschingsdienstag und Renate Aris' Vater muss aufs Amt. Er erhält den Befehl, am 16. Februar mit den Kindern ins KZ nach Theresienstadt zu fahren. Die Mutter aber sagt: »Ich lasse meine Kinder nicht in den Tod gehen. Wir fliehen.« Sie läuft in die Stadt. Vor dem Haus einer Freundin sieht sie diese liegen – tot, erschlagen, ebenso wie deren beiden Kinder. »Meine Mutter hat in dem Moment beschlossen: Den Namen nehmen wir an. Ihr heißt ab heute so«, blickt Aris zurück. Das Gebot ›Du sollst nicht lügen‹ kannte das Mädchen natürlich schon.
»Gut riechen sie, die Äpfel«
Der Angriff kostete rund 30.000 Menschen das Leben. Das Chaos aber, die kaputten Schienen, die einen Transport nach Theresienstadt unmöglich machten, retteten das Leben von Renate Aris und ihrer Familie. Die Mutter flieht mit Sohn und Tochter durch die Stadt. »Am Altmarkt lagen die Leichen aufeinandergestapelt, Körper, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die Berge wurden angezündet, aber vorher mussten wir drüber. Das sind Kinder-Erinnerungen.«
Die drei kommen bei Bekannten auf dem Weißen Hirsch unter, die sie bis zum 7. Mai verstecken. In einem Ankleidezimmer, hinter einem Regal voller Winteräpfel. Denn noch war die Gefahr nicht vorbei, die Nazis suchten jene 60 Juden, die am 16. Februar ins KZ fahren sollten. Sie durchkämmen das Haus, und stehen vor dem Regal. »Gut riechen sie, die Äpfel«, hört Renate Aris die Männer sagen. Sie gehen. »Wieder haben wir Glück gehabt, die Äpfel haben uns das Leben gerettet.«
Wenige Monate nach Kriegsende gehen Renate Aris und ihr Bruder zum ersten Mal in die Schule, direkt in die vierte Klasse. Der Heim-Unterricht, den die Eltern ihnen jahrelang gaben, hatte gewirkt: Kurz darauf springen sie eine Klasse weiter. Beide wechseln aufs Gymnasium, ihr Bruder studiert später Wirtschaftswissenschaften. Renate Aris aber will ans Theater, Kostüme sind ihre Leidenschaft. Sie beginnt eine Ausbildung zur Damenschneiderin, die jäh unterbrochen wird: Zwei Tage nach ihrem 17. Geburtstag stirbt plötzlich ihre Mutter. Renate Aris beendet die Lehre später und schließt 1958 noch die Meisterakademie des Handwerks ab.
Über das Theater Junge Generation in Dresden kommt sie zum Elbe-Elster-Theater in Wittenberg, leitet dort die Kostümabteilung. Doch bei einem Verkehrsunfall wird ihre Wirbelsäule verletzt, die Zeiten, schwere Kostüme und Stoffballen zu tragen, sind vorbei. Just in der Zeit entsteht in Chemnitz, im Kulturpalast in Reichenbrand, das größte Farbfernsehstudio des DDR-Fernsehens. Da ist es wieder, dieses Glück. Renate Aris bleibt bis 1990 Leiterin des Kostümbereichs der Studios Dresden, Leipzig und Chemnitz.
Seit 54 Jahren lebt sie in Chemnitz. Die Heimatstadt aber ist und bleibt Dresden. »Dresden ist eine wunderschöne Stadt. Aber man kann überall leben, man muss nur mittun und darf nicht warten, bis ein anderer etwas tut.« Hier hat sie ihren Garten, ihre Wohnung. »Wissen Sie, die Dresdner laufen auch nicht jeden Tag über die Brühlsche Terrasse.«
Bald nach der Ankunft betätigt sie sich in der Jüdischen Gemeinde, doch gemeldet bleibt sie in der Gemeinde in Dresden, deren Vorsitzender ihr Vater lange ist. Erst 1987, sie lebte schon 17 Jahre in Chemnitz, tritt Renate Aris hier ein. Zu der Zeit zählt die Gemeinde zwölf Personen. Renate Aris ist 15 Jahre stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, die heute gut 500 Mitglieder hat. 1999 gründet sie den jüdischen Frauenverein, den sie bis heute leitet. Doch sie sind wenige und die wenigen sind alt. »Die jungen Leute haben für nichts mehr Zeit«, bedauert Aris.
Was wünscht sich Renate Aris von der jüngeren Generationen? »Dass sie sich die Mühe machen und sich reinvertiefen in die Geschichte unseres Landes, in die Nazizeit. Und wenn es Diskussionen gibt: Nicht weghören, sondern sich stellen mit dem Wissen, das man hat.«
Immer wieder geht Renate Aris auf Menschen zu, die Vorurteile gegen Juden hegen. »Die sind dann ganz erstaunt, dass ich ja genauso bin wie sie. Man muss mit ihnen nur ordentlich sprechen. Dieses komische Bild vom Juden, das existiert nur in den Köpfen der Leute.« Angst vor solchen Gesprächen hat Renate Aris nicht. »Ach wissen Sie, wer den Holocaust überstanden hat, der sollte keine Angst haben.«