Chemnitzer Zeitzeugen: Jürgen Reuther

Im September 1940 wurde ich geboren und lebte fortan mit meinen Eltern im Hause meiner Großeltern Markersdorfer Straße 49, Ecke Knieweg. Mein Vater wurde zwei Monate nach meiner Geburt zur Wehrmacht eingezogen. Er kam danach an die Ostfront und fiel im März 1945 in Ostpreußen.

Die Zeit der Bombenangriffe auf Chemnitz erlebte ich als vierjähriger Knirps.,Damit einher ging das Erlebnis des oft aus dem Schlaf gerissen werdens, und mit Mutter, Bruder und Großeltern schutzsuchend das Kellergewölbe unseres Hauses aufzusuchen. Manchmal ging bei Voralarm mein Großvater mit mir vor das Haus und ich sah die Christbäume am Himmel. Bis dann in unserem Kellergewölbe, der alles übertönenden Motorenlärm der Bomberstaffeln die Angst vor dem womöglich Schrecklichen, was passieren könnte, körperlich spürbar machte.

Mein schlimmstes Erlebnis war der Tag für meine Familie und mich, den ich leider nicht datumsmäßig bestimmen kann. Auf die Markersdorfer Straße fielen bei dem Angriff zwei Luftminen. Eine genau auf die Markersdorfer Straße zwischen den Hausgrundstücken Markersdorfer Straße 51 und 42, das war ca. 30-40 m von unserem Haus entfernt, und die zweite zwischen den Hausgrundstücken Markersdorfer Straße 36 und 45. Wie man sagte, sollten diese Luftminen eigentlich das Gaswerk in Altchemnitz treffen, aber sie waren bei uns gefallen.

Wenige Tage vorher war bei einem Angriff das Haus Markersdorfer Straße 25 in der Nacht zerstört worden, in dem Tante Lotte (von dem befreundeten Ehepaar Viertel meiner Großeltern) im Keller verschüttet worden war. Sie hatte sich bei dem Angriff nur einen Mantel übers Nachtemd geworfen, hatte ein 2-Pfundbrot unter den Arm geklemmt und war in den Keller gerannt. Sie wurde aus den Trümmern geborgen und kam verdreckt und völlig verstört bei meinen Großeltern an. Ihr Mann hat gerade Nachtschicht und war so diesem Drama entkommen, wo sie beide schlagartig obdachlos wurden. Bei dem Angriff, wo die eine Luftmine fast unser Haus getroffen hätte, war Tante Lotte mit in unserem Kellergewölbe. Ich erinnere mich an eine höllische Angst, die bei diesem Angriff in unserem Kellergewölbe herrschte. Ich war auf dem Schoß meiner Mutter im hintersten Teil, noch zwei Stufen tiefer als die anderem im Vorderteil unseres Kellergewölbes, wo meine Großmutter, mein Großvater und Tante Lotte standen, saßen, lagen. Wo meine Mutter und ich saßen, waren die Kartoffelhorden und den Kartoffel- und muffigen Geruch des Kellers habe ich heute noch im Gedächtnis. Im vorderen Keller war die Wasseruhr, die Gasuhr und ein Regal mit Einweckgläsern und ein gefliester kalter Fußboden. Das ganze Kellergewölbe war so klein, das im vorderen Teil nur eigentlich für zwei Personen Platz war und es waren drei drin, und meine Mutter und ich konnten uns auch gerade so hinsetzen.

Als das Dröhnen der Bombermotoren immer näher kam, brach meine Tante Lotte schon aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse vorher in hysterische Angstschreie aus, und alle beteten Vaterunser und schickten eigene Hilferufe an den lieben Gott und alle guten Geister. Meine Mutter umklammerte mich und ich sie, bis dann der große Schlag kam und unsere ganzes Haus samt Kellergewölbe bis in die Grundfesten bebte und dann eine unheimliche Ruhe einzog. Mein Großvater öffnete die Kellertür und meine Mutter drängte sich mit hindurch, denn links von der Kellertür, unter der Treppe zum ersten Stock stand der Kinderwagen mit meinem Bruder! Alles war voller Glasscherben, die herausgerissene Waschhaustür lehnte an der Treppe zum oberen Stockwerk, schräg über dem Kinderwagen von meinem Bruder. Auf dem mit einer Windel abgedeckten Kinderwagen meines Bruders Stefan lagen Stücke der Glasscherben von den Glasscheiben der Waschhaustür und er lag friedlich schlafend da. Welch ein Glück in diesem Chaos, mein Bruder hatte es unverletzt und offensichtlich unbeschadet überstanden.

Unser Haus war in einem unsäglichen Zustand, fast alle Fensterscheiben zerstört, alle Gardinenstangen lagen heruntergerissen herum. Die schwere Schlafstubentür meiner Großeltern lag herausgerissen auf dem Bett meiner Großmutter und hätte sie erschlagen, wenn sie dort gelegen hätte. Fast alle Dachsparren unseres Hauses waren gebrochen, alle Schiefer des Daches waren abgerissen und lagen zu Haufen auf der Straße und vorm Haus. Der Giebel des Daches zur Luftmine hin stand einen Meter zur Seite; aber wir lebten!

Am 5. März kann ich mich schemenhaft an die unendliche Schlange von Menschen erinnern die unter dem glutroten Himmel, landwärts an unserem Haus vorbeiliefen. Dieser Angriff zerstörte zugleich auch die Existenzgrundlage meiner Großeltern, denn die kleine Druckerei ging in der Chemnitzer Zschopauer Straße 86 in Schutt und Asche zugrunde.
 

Hier hat der Zeitzeuge seine Geschichte erlebt:

Zeitzeugen-Broschüren

Der ewige März

Titelbild der Broschüre

Erinnerungen an eine Kindheit im Krieg


Die letzten Zeugen

Die letzten Zeugen

Als das alte Chemnitz im Bombenhagel starb

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