Chemnitzer Zeitzeugen: Regina Schettler
Wir wohnen im Hinterhaus. Wir, das sind meine Mutter, mein Bruder, 11 Monate junge und ich, 5 Jahre jung. Unser Vater ist Soldat an der Front in Rußland. Wie so oft, so heulen auch an diesem Tag die Sirenen. Mit meinem Bruder im Kinderwagen gehen wir über den Hof zur Hinterfassade des Vorderhauses durch eine kleine Holztür in den Luftschutzkeller. Es ist dunkel, nur eine Glühbirne an der Decke glimmt schwach. Von der Straße aus gibt es für Passanten, vom Alarm überrascht auch einen Zugang zum Luftschutzkeller des Vorderhauses. Und ein Mann, erblindet, hat sich bis in den Keller vorgetastet. Die Sirenen heulen ununterbrochen. Der Mann sagt: „Schließt jetzt die Holztür.“ Und der Kinderwagen mit meinem Bruder wird innen an diese Tür gestellt. Die Bewohner des Vorder- und Hinterhauses, alles Frauen, sitzen stumm im Halbrund auf kleinen Hockern und Bänken. Aus weiter Ferne vernehmen wir das Gedröhn von Fliegergeschwadern, bedrohlich näher und näher kommend. Der Blinde sagt: „Nehmt das Baby aus dem Kinderwagen.“ Die Mutter nimmt es in ihre Schoß. Die Glühbirne flackert und erlischt. Bombenabwurf.
Der Luftdruck reißt uns zu Boden. Wir atmen schwer. Dann ist es für Sekunden ganz still. Ich sage: „Ich lebe.“
Wir hören, wie Mauern einstürzen, in sich zusammenfallen und ein ewiges Rieseln von berstenden Glas und Geschirr. Einige Frauen schreien, wimmern, weinen. „Ruhe bewahren, Ruhe bewahren“, mahnt der Blinde.
Ein Lichtschein fällt in den dunklen Keller. Die Holztür ist weg. Erstarrt stehen wir vor dem Kinderwagen. Er ist voller Schutt und Gesteinsbrocken. Der blinde Mensch von der Straße ein Voraussehender. Mein kleiner Bruder lebt. Wir alle leben.