Chemnitzer Zeitzeugen: Erika Schladitz
Der Februar und der März eines jeden Jahres bringt mit das Erlebte als Zehnjährige sehr anschaulich immer wieder zurück.
Mit meinen Eltern, den erwachsenen beiden Schwestern (Jahrgang 1915 und 1921) und einer kleinen Nichte (Dezember 1943 geboren, der Vater ist in Stalingrad als vermisst erklärt worden) wohnte ich im Stadtteil Sonnenberg, unweit des Lessingplatzes.
Tagsüber und oft auch in der Nacht wurden wir durch Sirenengeheul zu sofortigen Aufsuchen des Luftschutzkellers gezwungen. Meist behielten wir die Unterbekleidung beim Schlafen gleich an und Hals über Kopf stülpten wir unsere andere Kleidung darüber, wenn es wieder Luftalarm gab. Ab Februar 1945 verging kaum ein Tag, wo wir nicht den Keller im Hause aufsuchen mussten. Meine Angehörigen entschlossen sich auf Grund der prekären Situation nach einem Alarmende uns beide Kinder (die kleine Nichts und mich) im Kellergang zu belassen. Im Kellergang befand sich das Nachtlager. In einer ausgepolsterten Zinkwanne fand Klein-Petra ihr Schlaflager. Ich musste auf einem Sommerliegestuhl mit warmen Decken vorliebnehmen. Ein ungutes Gefühl bis jetzt hat sich dabei eingeschlichen, denn dieser dunkle, muffige Keller war zwar ein einigermaßen sicherer Ort für uns, aber alles andere als schön.
Den verheerenden Angriff am 5. März auf meine Vaterstadt erlebt ich ebenfalls in diesem Hauskeller. Als wir in dieser Nacht verängstigt in unsere seit Wochen bereits demolierte Wohnung (die Luftmine am 14. Februare hatte unsere Fenster und Türen eingedrückt) zurückkehrten, sahen wir die unheimlichen Feuerlichter aus der Innenstadt auflodern. Für die Erwachsenen war es klar, etwas Schreckliches war passiert. Mit wenigen Habseligkeiten kamen dann bald auf unserer Straße fremde Menschen daher und berichteten brockenweise vom Überleben im Inferno.
In dieser Nacht nahmen meine Eltern, wie auch viele andere Hausbewohner, eine junge Mutter mit ihren beiden Kindern bei uns auf. Sie waren dem Flammentot entronnen und hatten außer einer Tasche nur das Leben gerettet. Alle drei weinten schrecklich, hilflos beobachtete ich sie. Am nächsten Tag bereits verließen sie uns und wollten sich zu Verwandten in Stadtnähe durchschlagen.
Meine Eltern und meine beiden älteren, erwachsenen Schwestern beschlossen, dass meine Schwester mit dem Kleinkind und ich die von Fliegerangriffen nicht mehr verschonte Stadt verlassen müsste. Meine älteste Schwester brachte mich mit der anderen Schwester und deren Kindchen am 8. März zu Fuß mit Handwagen und Kinderwagen durch die immer noch lodernde Innenstadt. Das Bild habe ich noch vor Augen, vom Geschäft Flade und auch das Siegertsche Haus sanken die Etagen brennend in sich zusammen. Es war ein unheimliches Getöse, Geklirre. Nach jedem Bombenangriff überzog ein widriger Gestank die Straßen. Geplatzte Gasleitungen, defekte Trockentoiletten, Kadaver erzeugten die Gerüche, ich empfinde sie heute noch.
An eine Geschichte erinnere ich mich noch: In diesem Inferno mit seinen Auswirkungen fand in unserem Haus tatsächlich ein Frontsoldat zu seiner Familie und seiner Braut. Er war für wenige Tage beurlaubt, wollte er doch heiraten, wie es geplant war. Die Tragik war, alle innerstädtischen Ämter, auch die Standesämter, waren außer Dienst. Sie existierten meist nicht mehr. Mit Gewaltfußmärschen fand sich im Umfeld eine Lösung. Die Heirat wurde vollzogen.
Keine Spur von Feiern war anschließend möglich. Flugs musste der Bräutigam zurück zu seiner Einheit. Da nahm man keine Entschuldigung bei der Armee. Der aufgesparte Streuselkuchen blieb weiterhin im Luftschutzkeller – wohlverwahrt. Er musste auf den Bräutigam noch warten. Ende gut, alles gut. Der junge Soldat kehrte unversehrt eines Tages wieder heim. Glücklich darüber war die gesamte Hausgemeinschaft und der Kuchen schmeckte noch vorzüglich.
Not macht erfinderisch: Dringend musste gleich nach Kriegsende die angefallene Wäsche meine Mutter waschen, immerhin waren wir eine größere Familie. Was tun bei dieser Wasserzuteilung? Hin und wieder kam auch in unserer Gegend ein Wasserwagen zum Einsatz. Viele Rohre waren nicht mehr tragfähig durch die Bombenabwürfe. Mit Eimern halfen sich die Menschen gegenseitig aus. Meine Mutter kam auf eine gute Idee. Unser Milchmann musste aushelfen. Er borgte meiner Mutter für ein paar Stunden zwei Milchkannen aus. Sie passten auf den Handwagen. Die Schwestern machten sich zur Quelle direkt gegenüber der Zeisigwaldschänke mit ihren leeren Kannen. Es verging viel Zeit ehe die großen Kannen ihre „Wertware“ aufgenommen hatten. Mutter im Waschhaus wartete bereits und legte gleich los. Nach tagelangen Waschen war der Engpass behoben und alle waren glücklich.
Hochachtung zolle ich noch den Bäckern der Stadt. Sie hatten Engpässe vieler Art zu meistern. Da klappte die Beschaffung des Mehles nicht mehr, ganz zu schweigen auch von einwandfreien Trinkwasser zum Backen usw. Schlangen bildeten sich in Windeseile, wenn ein Bäcker Brot backen konnte, auch wir mussten mit unter weit entfernt unser Glück bei fremden Bäckern versuchen. An Schulunterricht war dann auch nicht mehr zu denken. Zum Teil gab es viele Schulen gar nicht mehr. Meine Mädchen-Lessingschule war inzwischen Lazarett. Meine Eltern und auch noch ein paar andere Eltern (Geschäftsleute) nahmen das Zepter in die Hand. Mit vier gleichaltrigen Jungen bekamen wir in der Privatwohnung in der Würzburger Straße Privatunterricht. Mehrmals in der Woche gingen wir dorthin. In dieser genannten Zeit wurde unsere Stadt von der Sowjetarmee besetzt. Aber zuvor beim Näherkommen der Alliierten kam es noch zu Verteidigungskämpfen. Sozusagen „Hartgesottene“ wollten nicht kampflos die Stadt übergeben.
Im April 1945 gab es Artilleriebeschuss auf unsere Häuser. Ein Einschlag gab es direkt auch in unser Haus. Dabei ist das Geschoss in die Trockenklosettanlage gesaust. Wenige Meter fehlten nur und es hätte das Treppenhaus des großen Mietshauses getroffen. Das wäre viel schlimmer gewesen. Zu der Zeit des Einschusses lag mein Vater zu Bett. Er hatte großes Glück. Neben ihm auf dem Nachtschrank lag ein großer Splitter. Er hätte meinen Vater töten können.
Noch eine abschließende Episode. Unser Molkereigeschäft hatte eine Maschine zur Herstellung von Schlagsahne. Die kannte man damals nur noch vom Hören und Sagen. Aber die Not machte erfinderisch. Mit gekochten Pudding (soweit man noch Restbestände hatte) und etwas Süßstoff und einem Eimer ging es zum Anstehen vor den Laden des Milchhändlers. Für jeden extra fabrizierte er die Sahne aus dem Mitgebrachten. Sie glauben es kaum, der mitgebrachte Eimer nahm das „sahneähnliche Etwas“ auf. Die ganze Familie wurde kurzzeitig davon satt. Nachteil: Jeder musste dauern rülpsen.