Chemnitzer Zeitzeugen: Peter Schlegel
An den Krieg kann ich mich erinnern – schrecklich und eindrucksvoll.
Ab und zu mussten wir in den Luftschutzkeller in unserem Hause Bernsdorfer Straße 42 hinunter, da waren viele Leute, die redeten so ängstlich, manche weinten, wenn das Licht flackerte und irgendwo mit lautem Krach Einschläge zu hören waren. Manchmal wackelten sogar die Kellerwände.
Einmal kamen wir aus dem Luftschutzkeller wieder nach oben, da fand ich in meinem Kinderbett eine Stabbrandbombe, Dach und Geschoßdecken hatte das Ding durchschlagen und war dann als Blindgänger ausgerechnet in meinem Bett liegen geblieben. Mehrere Tage musste ich im Elternschlafzimmer übernachten, dann hatten die Leute vom Luftschutz den Schaden wieder behoben, die Decke über meinem Bett war wieder dicht, aber tagelang roch es so komisch in meinem Zimmer und vor dem Einschlafen stierte ich dann minutenlang auf den Fleck über mir an der Zimmerdecke, wo die Farbe ausgebessert worden war.
Und dann kam der 5.März 1945, an diesem Tage zerstörten alliierte Bomber meine Heimatstadt und brachten einen tiefen Einschnitt in mein noch so junges Leben und meine kleine Seele:
Beim winterlichen Abendspaziergang sahen wir am Himmel sogenannte „Christbäume“ und ich wusste, es geht bald wieder in den Luftschutzkeller. Dann gab es Entwarnung und ich durfte ins Bett. Meine Mutter hat mir noch vom Siegfried dem Drachentöter vorgelesen – ich weiß das noch ganz genau. Irgendwann schlief ich ein und wurde dann von meiner aufgeregten Mutter unsanft aus dem Schlaf gerissen, hastig angezogen, und schon eilten wir in den Keller, ich hörte was von Großangriff auf Chemnitz und dann krachte es, dass die Wände wackelten, Menschen brüllten, irgendwann hockten wir hinten im Luftschutzkeller, es pfiff, heulte, dröhnte, knallte und wackelte alles entsetzlich, dann ein fürchterlicher Einschlag, das Kerzenlicht erlosch bei den meisten durch einen gewaltigen Luftdruck, Weinen, Schreien, Übereinanderstürzende, meine Mutter drängelte mich durch den finsteren Kellergang irgendwohin in einen anderen Teil des Untergeschosses, dann war da ein Fenster, meine Mutter quetschte mich durch die enge Öffnung hinaus auf die Straße, dort brannte alles lichterloh und ein entsetzlicher Geruch hing in der Luft, den ich niemals vergessen werde.
Heute noch kommen mir zum Beispiel an einem Lagerfeuer, sogar manchmal beim Grillen, die Bilder aus der brennenden Bernsdorfer Straße ins Gedächtnis zurück – ja sogar die Straße brannte durch die Phosphorlachen. Bomben über Bomben fielen aus dem dunklen Himmel in die brennende Stadt, eine Detonation folgte der anderen. Ich schrie nach meiner Mutter, aber für sie war das Fenster zu klein, sie rief „Lauf, lauf, Peter, lauf von dem Haus weg“, und ich rannte über die Straße auf den gegenüberliegenden kleinen Park am Rosenplatz zu, bis ich mitten im Schnee auf einer großen weißen Fläche zum Stehen kam.
Obwohl ich an diesem Tage noch nicht mal ganze fünf Jahre alt war, haben sich die Bilder unauslöschlich in mein Gedächtnis eingeprägt. Die Realität ist viel grausamer als die meisten Filme, die ich später gesehen habe. Die Häuser um den Platz herum waren fast alle aufgeschlitzt, von manchen waren ganze Hälften nicht mehr da, Möbel hingen über gebrochene Fußböden schamlos in der Gegend herum, Menschen brüllten, Leichen lagen auf dem Gehsteig. Mitten in der Nacht war es fast taghell, und überall dieser unbeschreibliche Gestank von brennenden Leibern, kohlendem Holz, Löschwasser und Chemikalien. Und dann noch dieser nervenzerreißende Krach: Flugzeugdröhnen, Explosionen, Lichtblitze, krachende Einschläge, berstende Mauern, das wahre Inferno.
Ich habe geschrien wie am Spieß, und irgendwann kamen dann Männer vom Luftschutz mit langen Leitern und riefen aufgeregt, ich solle vom Teich runter. Ich wusste überhaupt nicht, was los war, ich habe nur noch geweint und nach meiner Mutter gebrüllt. Auf den langen Leitern, die sie auf den Boden gelegt hatten, kamen die Männer auf mich zugekrochen, heute weiß ich, dass ich mitten auf einem zugefrorenen Löschwasserteich stand, und das Eis taute bedenklich.
Dann haben mich die Männer gepackt, ich wehrte mich mit Händen und Füßen, aber sie waren stärker als ich. In die nahegelegene Dittes-Schule haben sie mich geschleppt, dort sammelten man die Obdachlosen und Verletzten. Die Turnhalle könnte ich heute noch zeichnen, so klar sind die Bilder in meinem Gedächtnis verblieben. Strohsäcke lagen herum, beschädigte und heile Matratzen, Erwachsene weinten, das hatte ich noch nie gesehen, andere trösteten, die meisten saßen nur und schwiegen vor Entsetzen.
Irgendwann kam meine Mutter, auch sie hatte es aus dem Keller unseres zerstörten Hauses doch noch geschafft, aber sie war verletzt, blutete und schaute mit leerem Blick durch mich hindurch. Sie weinte viel, und ich verstand meine kleine Welt nicht mehr.
Den nächsten Tag verbrachten wir bei Tante Bertha zwei Straßen weiter. Jemand borgte meiner Mutter einen kleinen Handwagen, einen „Rollfix“, und paar Kissen. Ich wurde auf den Wagen gepackt und dann marschierte meine Mutter zwei Tage lang mit Handwagen und mir auf der Landstraße nach Leipzig Richtung Oma und Opa. Irgendwie hat sie es geschafft, in Bernbruch bei Bad Lausick lebten die Eltern meines Vaters, dort suchten und fanden wir Unterschlupf bei meinen Großeltern. Die Leute im Dorf waren freundlich zu uns, aber meine Mutter erholte sich nicht wieder von dem „Knacks“, wie man sagte, den sie sich beim Bombenangriff zugezogen hatte, am 16. Juni 1945 starb meine liebe gute Mutti. Sie wurde auf dem kleinen Friedhof neben der Dorfkirche begraben.
Und nun war ich Vollwaise, doch davon wusste ich nur die Hälfte, denn auf die Rückkehr meines Vaters aus dem Kriege warteten wir alle noch.
Er wurde bei der Deutschen Wehrmacht vermißt, kam niemals wieder zurück ...