Chemnitzer Zeitzeugen: Roland Schulze
Es war der 13. Februar des Jahres 1945, Fastnacht, und ich bin an diesem Tage 11 Jahre alt geworden. Aber weder an den Geburtstag noch an den Kinderfasching kann ich mich erinnern. Dafür ist mir aber der hellrote Nachthimmel im Osten noch so gegenwärtig als wäre es erst gestern gewesen.
Gegen 21 Uhr 30 war Fliegeralarm und wieder hieß es, raus aus dem Bett, anziehen, die bereitstehenden Sachen auf die Familie verteilen und auf dem schnellsten Wege in den Keller.
Familie, das war meine Mutter, damals 37 Jahre alt mein 4 Jahre alter Bruder, meine Tante, die kurz zuvor beide Eltern, den Mann und einen Sohn, sowie ihre Wohnung im Brühl verloren hatte und natürlich, ich, der „Ersatzvater“. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir von meinem Vater, der damals 41 Jahre alt war, schon mehr als 6 Monate kein Lebenszeichen mehr erhalten. Bis heute fehlt jede Nachricht.
Die bei uns wohnende ältere Schwester meiner Mutter war durch die beschriebenen Schicksalsschläge geistig verwirrt und hatte nur noch den einen Sinn, möglichst bei nächster Gelegenheit ihrem Sohn und Mann nachzufolgen.
Unser Wohnhaus lag auf dem Hof der damaligen Kreishauptmannschaft auf dem Kaßberg in der Metzschstraße, zum Luftschutzkeller im Hauptgebäude waren es dann etwa 120 Meter über den riesigen Hof. Dafür war der Keller aber hervorragend ausgebaut, meterdicke Wände mit Gewölbedecken unter dem Niveau, mit Notlicht und mehreren Ausgängen, geschützten Türen und mit Stützen verstärkte Decken gaben das Gefühl von großer Sicherheit. Das alles war aber nicht für uns gebaut, sondern für den damaligen Regierungspräsidenten, Obersturmbannführer Popp und den damaligen Landrat Lehmann, sowie die höheren Angestellten der Kreishauptmannschaft. Während der Landrat Lehmann eigentlich immer einen anständigen volksverbundenen Eindruck machte, spielte sich der Regierungspräsident Popp, der ständig in SS Uniform auftrat, auf, eben wie ein echter Nazi. Es war wohl der 13. Februar als er nach der Entwarnung sagte, ".. so, jetzt können die Tommys Chemnitz bombardieren, denn Morgen werde ich nach Pommern versetzt!"
Schon während des Alarms sickerte über die soeben erwähnten Kreise durch, dass Chemnitz für heute wohl verschont bleibt, weil gerade Dresden bombardiert wird. Damals war man damit zufrieden, denn jeder, auch wir Kinder lebten nur von Tag zu Tag und es war ja klar, die Angriffe kommen wieder und dann sind wir dran. Nach der Entwarnung mussten wir also über den Hof zurück und da sah man das Unglaubliche, ein heller Himmel bis zum Zenit, nicht ein dunkler Schimmer oder ein Streifen Licht am Horizont, nein, ein heller stiller, grausamer Feuerschein. Drei Wochen später war es dann auch für Chemnitz soweit. Nur, die Menschen waren gar nicht überrascht, denn sie werden auch zu uns noch kommen. Auch uns Kindern war das klar, denn wir waren auf die Gefahren und den Schutz davor abgerichtet, dachten wir.
In den Tagen vor diesem 5. März 1945 war sehr viel Schnee gefallen, 10 bis 15 Zentimeter lagen auf dem Kaßberg. Schnee war gut, das wussten auch die etwas reiferen Kinder, weil dieser eine Menge Wärme wegnimmt und der Asphalt kann nicht so schnell anbrennen. Das heißt aber nicht, dass wir etwa beherzt und mutig dem nächsten Alarm erwartet hätten, nein wir hatten Angst, riesige Angst und noch Jahre später bekam ich Herzrasen beim Ertönen der Zeitsirene. Gegen 21 Uhr kam dann der Fliegeralarm und unsere „Überlebensgemeinschaft“ hat sich wieder auf den Weg gemacht, die junge Frau mit den zwei Kindern und der schwer kranken Schwester und der dauernden Ungewissheit über den Mann und Vater.
Der eigentliche Angriff begann wohl so gegen 21 Uhr 45 und dauerte etwa 1,5 Stunden. Der Motorenlärm ganzer Geschwader mit seinem hohlen Dröhnen liegt mir heute noch in den Ohren, aber so richtig beschreiben kann man das nicht. Alle dort im Keller waren still, alle dort hatten den Tag erwartet, alle dort hatten riesige Angst und alle waren nur in sich und mit sich beschäftigt. Die Situation während eines Bombardements ist kaum zu erklären und noch weniger zu beschreiben.
Der Kellerboden bebte und man konnte die Druckwellen ganz deutlich spüren, und es hat keiner gesprochen, außer den Müttern die zuweilen ihre Kinder getröstet oder ihnen gesagt haben, mach den Mund weit auf, lege dich flach auf den Boden, es ist gleich vorbei. Der Mörtel rieselte von den Wänden und man kann nur noch in Sekunden denken und jeder freut sich darüber, dass er in dieser Minute noch lebt. Mit fortschreitendem Bombenabwurf kam auch immer mehr Feuerschein durch die Ritzen der Fenstersicherungen im Kellergang, die ihrerseits zunehmend mehr ins Klappern kamen und schon bedenklich viel Luft hatten. Noch während der Bombenabwürfe habe ich im Nebenraum, der genauso gut ausgebaut war wie der eigentliche Keller aber völlig leer war, denn der Kaßberg an dieser Stelle war eher dünn besiedelt und der Keller war nie voll besetzt, alle Decken und Bademäntel in einem Wasserfass durchnässt.
Als dann etwa 20 min Ruhe war sagte jemand: „Wir müssen hier raus.“ Zwei der drei Ausgänge waren verschüttet und am Turmausgang war die von einer schweren Bombe aufgeworfenen Erde bis an die Kellertür geworfen worden, das war ganz knapp an der Katastrophe vorbei.
Der Kellergang war noch frei und zum Glück gab es den Menschen, der eben gesagt hat „wir müssen hier raus“, denn das Gebäude über uns brannte schon bis in die erste oder zweite Etage. Nach etwa 30 Metern sagte meine Mutter, „wir haben die Tasche mit den Schuhen im Keller stehen lassen.“ Ich erinnere mich noch genau, ich bin unter Protest allein in den Keller zurück und habe die Tasche geholt, es war zwar dunkel aber durch den Feuerschein hell genug, um sich zurechtzufinden. Noch heute geht mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich an die Angst denke, die ich damals allein im Kellergang hatte, obgleich ich viele Jahre nicht an diese Ereignisse von damals gedacht habe.
Wir Jungen kannten nicht viele Spiele oder etwa Feierlichkeiten oder Hobbys aber wir kannten genau die Gesetze von Flucht und wir kannten die Typen der Brandbomben und konnten die Wirkungen der Bomben gut einordnen und wir konnten gut beurteilen, ob ein Keller sicher oder eher eine Todesfalle war. Luftalarm und Fliegerangriffe gingen weiter bis 10. April und wurden danach nahtlos durch alliierten Beschuss ersetzt. Die grenzenlose Angst vor allem in den völlig ungenügend gesicherten Kellern der Dorfhäuser ist geblieben bis zum Ende des Infernos.
Noch heute, wenn ich einen fremden Keller betrete, geht ganz automatisch mein Blick zur Decke und ich kann auch kein Hotelzimmer betreten, ohne mir vorher den Fluchtweg eingeprägt zu haben. Ausreißen, das haben wir in Hitlerbarbarei gründlich gelernt.