Chemnitzer Zeitzeugen: Karin Wiedemann

Am 5. März 1945 sollte es gerade noch zwei Monate bis zu meinem fünften Geburtstag dauern. Wir bewohnten eines der kleinen Uralt-Häuschen in der Chemnitzer Brüderstraße -  Brüderstraße 10 - zwischen Kämmergäßchen und Roßmarkt. Keines der Straßenschilder ist mehr zu finden. Das Areal ging später in den Rosenhof über. Wir wohnten also mitten im Zentrum von Chemnitz. Eine exponierte Stelle in Zeiten von Bombenangriffen und Fliegerabwehr.

Wir - das waren meine über 70jährige Großmutter, meine 25jährige Mutter und ich, bald fünf. Ein männliches Familienmitglied gab es nicht. Großvater war längst verstorben, Vater bereits 1941 gefallen.

Es gab Familien, die sich rechtzeitig in weniger bedrohte Gebiete - etwa aufs Land - zurückziehen konnten. Für uns war das nicht möglich. Unsere kleine Bäckerei war von Amts wegen verpflichtet zur Versorgung der - wie es hieß - Volksgemeinschaft beizutragen.

Ein angestellter, nicht kriegsverwendungsfähiger Meister richtete das Backgut tagsüber an, aber gebacken wird nun mal nachts! Also oblag es meiner Mutter den Backvorgang in den späten Stunden zu überwachen.

So saß sie auch am 5. März auf einer Schwelle der Grube vor dem Backofen, in die der Bäcker zum sogenannten Anschieben steigen muss. Als sie feststellte, dass das Brot im Ofen noch eine Weile brauchte, beschloss sie nach uns, Großmutter und mir, zu sehen.

Es hatte Voralarm gegeben, ein markerschütterndes Sirenengeheul, das sich von Hauptalarm und Entwarnung nur in Länge und Anzahl der Töne unterschied.

Unser kleines Haus war nicht ausreichend unterkellert. Schutz fanden wir in einem hinter unserem Grundstück befindlichen Gebäude. Ich glaube, es war ein Kino, Regina-Palast, wenn ich mich recht erinnere. Diesen Luftschutzraum - amtliche Abkürzung LSR - erreichten wir durch unseren Hof und einen in die mannshohe Grundstücksmauer geschlagenen Durchlass.

Der Kellerraum war mit Menschen überfüllt. Wir saßen dichtgedrängt auf Holzbänken ohne Lehne. An einer Wand lagerten Stahlhelme in einem Regal. Plötzlich hatte ich so ein Ungetüm auf dem Kopf. Auch eine damals übliche Zinkbadewanne, die mit Wasser gefüllt war, nahm ich wahr. Sollte das ein Löschwasservorrat sein? Jedenfalls tauchten wir bald Tücher darin ein, um sie als Staubschutz und Atemhilfe vor Mund und Nase zu binden. Eine Art Zelluloid-Brille, die die gesamte Augenpartie umschloss und mit einem Gummiband am Kopf gehalten wurde, gehörte als Splitterschutz zu unserer Grundausrüstung.

Mit dem Eintreffen meiner Mutter begann ein beispielloses Inferno. Alles geschah gleichzeitig: Krachen, Heulen, Pfeifen, Dröhnen, Vibrieren, Beben. Von Decke und Wänden brachen Putz und Steinstücke und prasselten auf uns nieder. Druckwellen hoben die Bänke samt uns darauf Sitzenden in immer wiederkehrenden Intervallen hoch. Und Hitze, diese Hitze! Unerträglich! Die Luft stickig, mit Staubpartikeln übersättigt. Die nassen Tücher im Nu ausgetrocknet.

Plötzlich war es zu alle dem stockdunkel! Der Strom war ausgefallen! Panik, Entsetzen muss es gegeben haben. Davon habe ich nichts mitbekommen. Im Augenblick der tobenden, tosenden Finsternis war ich starr, stumm, taub.

Später berichteten die Erwachsenen von unglaublich dramatischen Angstreaktionen. Nicht selten sollen Menschen gelobt haben, für immer nur mit Wasser und Brot zu leben, wenn sie dieser Hölle entkämen.

Wie schnell wir Menschen doch vergessen!

Schließlich warfen Taschenlampen einen trüben Schein. Irgendwann ebbte der Lärm ab. Ich hörte: Tür geht nicht auf! Eingang verschüttet! Sind eingeschlossen!

Doch da gab es ja noch einen der üblichen Mauerdurchbrüche in den Nachbarkeller, nur mit losen Ziegelsteinen verschlossen. Nachdem dieses Schlupfloch freigelegt war, sah ich dahinter hellen Feuerschein. Jemand sagte: Da brennt es. Wir kommen nicht durch. Dann verläßt mich meine Erinnerung.

Sie kehrt erst zurück, als wir den Weg ins Freie gefunden hatten und über Berge von Schutt durch die Reste unseres Hauses stiegen. Dort sah ich, wie von Hausfrauenhand sorgsam ausgebreitet, auf dem Trümmerberg unsere bodenlangen Gardinen aus der ersten Etage liegen. Eine Druckwelle hatte für "Ordnung" gesorgt. Meine Mutter hingegen sah mit Entsetzen den großen Steinquader, der genau auf der Stufe der Backofengrube lag, auf der sie zuvor gesessen hatte.

Der gewaltige Anspruch an Mut, Tapferkeit, Kraft und Entschlossenheit ließ meine Mutter wie all die anderen Mütter in dieser Zeit über sich hinauswachsen. Wir versuchten dem Flammenmeer zu entrinnen.

Die Gefahr für Leib und Leben war aber noch lang nicht gebannt. Es galt nicht über Trümmer zu straucheln, einstürzenden Gebäudeteilen auszuweichen und Funkenflug rechtzeitig abzuwehren.

Mit uns wälzte sich ein Pulk von Menschen über den Falkeplatz die Stollberger Straße hinaus. Noch war es dunkel, als wir im Ortsteil Markersdorf in einer Wellblechgarage Unterschlupf fanden. Ich lag dort mit anderen Kindern in einem großen Bett. Die Erwachsenen scharten sich um einen kleinen eisernen Ofen. Es war März, hier draußen war es kalt, es hatte geschneit.

An diesem Ort kam es zu einem tragik-komischen Ereignis, das später unsere Familie noch öfter amüsierte: Durch die Schneeschmelze in der brennenden Stadt waren die Schuhe meiner Großmutter durchgeweicht und sollten nun am Öfchen in der Garage trocknen. Als am Morgen der Aufbruch nahte, erwiesen sie sich als hoffnungslos unbrauchbar: Sie waren in der Ofenhitze verschmort. Kaum zu glauben: Großmutters Eitelkeit rettete sie vor Barfüßigkeit! Sie hatte in ihr Notgepäck, das immer und überall griffbereit zu sein hatte, ihre guten Lackschuhe gepackt!

Im April fanden wir eine Unterkunft in Hilbersdorf. Bomben flogen wohl keine mehr. Aufenthalte im Keller gab es aber immer noch. Unser Wohnhaus stand unmittelbar am großen Verschiebebahnhof, einer wichtigen Versorgungsader der Stadt. Artilleriefeuer nahm die Gleisanlagen unter Beschuss. Viele Einschusslöcher in den Hausfassaden zeugten noch lange davon.

Dann kam ein Tag, der aus der Perspektive meines kindlichen Verstandes komisch war. Komisch im Sinne von ungewöhnlich, seltsam, anders. Überall an den Häusern hingen weiße - ja, was? - Lappen? Tücher? Laken? Nein, weiße Fahnen! Es war der 8. Mai. Der Tag der Befreiung.

Einen Tag später, am ersten Tag des Friedens, feierte ich meinen fünften Geburtstag. Man hatte eine Puppe aufgetrieben. Wie schön!

In mein neues Lebensjahr nahm ich aber auch ein sehr makabres Geschenk mit: Es war ein Wortschatz, den kein Kind braucht. Dazu gehörten Wörter wie Fliegeralarm, Bomberverbände, Luftminen, Tiefflieger, Bordwaffen, Blindgänger, Ausgebombtsein...

Und das tief eingebrannte Wissen, was Krieg und Angst sind.
 

Hier erlebte die Zeitzeugin ihre Geschichte:

Zeitzeugen-Broschüren

Der ewige März

Titelbild der Broschüre

Erinnerungen an eine Kindheit im Krieg


Die letzten Zeugen

Die letzten Zeugen

Als das alte Chemnitz im Bombenhagel starb

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