Chemnitzer Zeitzeugen: Gerhard Willner
5. März 1945 – dieser Tag sowie die Wochen und Monate unmittelbar davor und danach haben mich für mein weiteres Leben geprägt in meinem kompromisslosen Verlangen nach Frieden.
Ich war damals 7 Jahre alt und wohnte mit meinem Bruder und unserer Mutter auf dem Sonnenberg in einem Eckhaus Jakobstraße / Martinstraße. Unser Vater war schon 1942 an der Ostfront gefallen – sinnlos. Mein 1. Schuljahr war bereits abgebrochen, da die Dürerschule (Knabenschule) in der Reineckerstraße, in der ich das Alphabet bei einem Oberlehrer in SA-Uniform erlernte, während eines Angriffs im Februar von einer Sprengbombe getroffen worden war.
In den Wochen vor dem 5. März ertönte fast täglich die Sirene zum Fliegeralarm. Vor allem nachts wurden wir dadurch aus dem Schlaf gerissen und mussten in den Keller. Da die Zeiträume zwischen Voralarm und Fliegeralarm immer kürzer wurden, schliefen wir halb angezogen in unseren Betten, um so schnell wie möglich in den sog. Luftschutzkeller zu gelangen. Dort herrschte meist Stille, wenn man das Brummen der sich nähernden Flugzeuge hörte oder Luftlagemeldungen über den sog. Drahtfunk empfing. Bei einem Tagesangriff im Februar lagen wir voller Angst auf dem Kellerboden und lauschten dem sich immer näher kommenden dumpfen Bum-Bum-Geräusch der Bombeneinschläge. Schließlich erschütterte ein überlauter Schlag unseren Keller und unsere Mutter glaubte, jetzt sei unser Haus getroffen. Nach der Entwarnung stiegen wir mit beklemmendem Gefühl nach oben und sahen das bis zur 1. Etage zerstörte Eckhaus gegenüber. In unserer Wohnung waren alle Fensterscheiben geborsten, Trümmerteile lagen im Raum, Ziegelsteine auf den Betten.
Am 5. März abends gegen 21.45 Uhr begann für uns die Schreckensnacht. Mit Mantel, Mütze, Rucksack und einer Decke ging es wieder eiligst in den Keller. Apathisch hockten die Hausbewohner auf Bänken, möglichst abseits von Kellertüren und -fenstern, und hörten auf die Bombeneinschläge. Wir Kinder hatten nur noch Angst. Irgendwann kam die Meldung: Unser Dach brennt, wir müssen raus! Das Erste, das ich beim Verlassen des Hauses sah, waren helle Flammen, die aus den Fenstern der Wohnung einer Frau schlugen, die Stoffpuppen für Kinder anfertigte und diese immer im Fenster ausstellte. Ein Schock für mich als Kind!
Wir flüchteten in Richtung Hainbrücke, wurden aber beim Ballhaus Zweiniger von Luftschutzhelfern zurückgewiesen, da dort ein Haus bis zum Erdgeschoß brannte und die Vorderfront auf die Straße zu stürzen drohte. Der weitere Fluchtweg ging über die Martinstraße Richtung Oststraße (heute Augustusburger Str.). Dies war die Hölle. Die gesamte linke Häuserfront stand in Flammen, wir stolperten über Trümmer und brennende Balken, Funkenflug trieb uns ins Gesicht. In einem Keller auf der Holbeinstraße fanden wir vorläufigen Unterschlupf.
Später wurde ein Lkw bereitgestellt, auf dem wir Kinder mit unseren Müttern aus der Stadt gebracht werden sollten. Eine Irrfahrt, während der wir auf offener Ladefläche das Inferno der brennenden Stadt miterlebten. Der Fahrer wurde immer wieder zur Umkehr gezwungen, weil durch Bombentrichter oder Trümmer kein Weiterkommen auf den Ausfallstraßen möglich war. Mit dem Hellwerden am nächsten Morgen zogen wir zu Fuß mit vielen anderen Flüchtlingen auf der Zschopauer Straße landwärts. In Kleinolbersdorf fanden wir bei Bekannten eine vorläufige Bleibe.
Wir hatten alles verloren, aber wir lebten!
Was folgte, waren wieder Kellertage in Chemnitz wegen des Granatbeschusses am Ende des Krieges, Leben in einer kleinen Ersatzwohnung unter primitiven Verhältnissen, Kälte und Hunger. Aber wir lebten in Frieden – endlich!