Nischel Jubiläum: Weggefährten erinnern sich

"Ich fand das ungeheuerlich übertrieben"

Karl Joachim Beuchel, Stadtbaudirektor von Karl-Marx-Stadt

Vor etwa 250.000 Menschen wurde am 9. Oktober 1971 das Karl-Marx-Monument feierlich enthüllt.

Karl Joachim Beuchel war zu der Zeit Stadtbaudirektor von Karl-Marx-Stadt, in der das Karl-Marx-Monument geplant und gebaut wurde. Er erlebte nicht nur den Schaffensprozess des Bildhauers Lew Kerbel mit, sondern sorgte auch dafür, dass das Monument heute nicht im Stadthallenpark steht. Im Interview erinnert er sich an diese turbulente Zeit:  

 

Als Sie Stadtbaudirektor wurden, wie stand es zu dieser Zeit um die Pläne zum Wiederaufbau des Stadtzentrums?

Karl Joachim Beuchel: 1953 entschied das Politbüro der damaligen Staatspartei SED über die Köpfe der Bewohner hinweg die Umbenennung von Chemnitz in Karl-Marx-Stadt. Die gleiche Parteiführung beschloss 1959 den Wiederaufbau des 1945 zerstörten Stadtzentrums. Danach war zwischen dem Roten Turm und der Brückenstraße nach sowjetischem Vorbild ein großer zentraler Aufmarsch- und Demonstrationsplatz mit einem Hochhaus als Dominante gefordert. 

 

Was waren Ihre ersten Entscheidungen als Stadtbaudirektor?

Die ersten Monate meiner Tätigkeit als Stadtbaudirektor ab 1964 nutzte ich, um aus der vorgesehenen, für die Öffentlichkeit begrenzten, politisch-wirtschaftlichen Nutzung dieses Hochhauses ein multikulturelles Zentrum für alle Menschen der Stadt zu machen. Anlässlich der 800-Jahr-Feier 1965 bestätigte der Parteichef des Politbüros diese Änderung. 

 

Was war Ihre Meinung zum Bau eines Marx-Denkmals in der Stadt?

Baugebundene Kunst ist nicht zum Füllen von Baulücken geeignet. Sie muss Bestandteil städtebaulich- architektonischer Planungen sein und von den Menschen verstanden werden. Monumentale Denkmäler im städtischen Raum dienen aber oft auch zur politischen Beeinflussung der Menschen in den unterschiedlichen Gesellschaftsformationen. So konnte die Entscheidung, in Karl-Marx-Stadt ein Denkmal des Philosophen zu errichten, nicht unbeachtet bleiben. 

 

Das Karl-Marx-Monument sollte ursprünglich auf dem Platz vor der Stadthalle gebaut werden. Was sprach aus Ihrer Sicht gegen diesen Standort?

Nach der Planungsänderung als Nutzung der Dominante zu einem kulturellen Zentrum schien dieses Denkmal vor dessen Hauptzugang falsch platziert. Es musste ein anderer Standort gefunden werden. Dazu aber war meiner Meinung nach der künftige Urheber dieses Monuments mit zu beteiligen.


Wie konnten Sie eine Änderung der Pläne bewirken?

Die Bürogebäude für die SED-Bezirksleitung und den Rat des Bezirkes musste ich auf der anderen Seite der Brückenstraße städtebaulich neu ordnen. Deshalb hielt ich den Standort eines Monuments an dieser Stelle für besser. Aber anstelle der vorgesehenen Ausschreibung eines DDR-offenen Wettbewerbes zur Gestaltung eines Karl-Marx-Monumentes entschied, zur Verwunderung aller Beteiligten, der Staatsratsvorsitzende, dass der Urheber dieses Monuments der Moskauer Bildhauer Professor Lew Jefimowitsch Kerbel sein muss.


Wie würden Sie den Künstler Lew Kerbel beschreiben?

Die große Bedeutung des Karl-Marx-Monuments für die Stadt betonend, wies Walter Ulbricht alle Forderungen der Künstler auf die Ausschreibung eines Wettbewerbs mit dem Hinweis zurück, es seien nicht nur bildhauerische Fähigkeiten, sondern auch ein inniges Verhältnis zu Karl Marx notwendig. Das sorgte für eine verständliche Verärgerung des Künstlerverbandes. Aber der Bildhauer Professor Lew Jefimowitsch Kerbel machte auf mich den Eindruck eines freundlichen, humorvollen und warmherzigen Menschen, was eine ernsthafte und ergiebige Zusammenarbeit versprach. 


Wie war die Zusammenarbeit zwischen Ihnen beiden? 

Um den auserwählten Bildhauer kennenzulernen und für eine gemeinsame Arbeit zu gewinnen, besuchte ich ihn in seinem Moskauer Atelier. Bei dieser Gelegenheit besichtigte ich auch sein in Stein gehauenes Moskauer Karl-Marx-Monument, dem viele Studien vorausgegangen sein sollen. Gleichzeitig aber nahm ich seine großen bildhauerischen Fähigkeiten sowie seine umfangreichen internationalen Erfahrungen zur Kenntnis.  


Wie war Ihr Besuch bei Lew Kerbel in Moskau, bei dem Sie sich auf einen neuen Standort für das Karl-Marx-Monument geeinigt haben?

Die Veränderung des Standortes des Karl-Marx-Monumentes an die Brückenstraße begrüßte der Künstler besonders hinsichtlich der täglichen Lichtverhältnisse auf das Profil der stehenden Figur. Er sagte auch einer Einladung nach Karl-Marx-Stadt sofort zu. Dieser neue Standort ermöglichte aber gleichzeitig auch eine Veränderung der Fläche vor dem kulturellen Zentrum. Den an wenigen Tagen des Jahres nutzbaren Platz verwandelte ich deshalb in der Planung zur Freude aller Chemnitzer in eine Parkanlage.  


Wie reagierten diejenigen, die den Entwurf des Karl-Marx-Kopfes als erstes gesehen haben?

Ab 1966 arbeitete Professor Kerbel an seinem Entwurf. Am Modell in Karl-Marx-Stadt überprüften wir seinen Gestaltungsvorschlag. Dabei entstanden berechtigte Zweifel an der geplanten hohen bronzenen Figur. Eine Attrappe aus Holz und Segeltuch in natürlicher Größe bestätigte diese Bedenken: Die Augenhöhe und der Blickwinkel eines Betrachters führten zu der Erkenntnis, dass dieser Maßstab falsch ist. Die Höhe der Plastik zerstörte den städtebaulichen Raum. Insofern hatte die Kritik einiger Künstler zu dem geplanten Monument und seinem Künstler eine Berechtigung. Sehr unzufrieden mit diesem Ergebnis versprach aber der Bildhauer, an seinem Entwurf weiterzuarbeiten. Es sollte maßstäblich kleiner werden. Ende 1967 bat er um meinen erneuten Besuch in Moskau. Er habe eine neue Variante vorzuschlagen und wollte meine Meinung dazu wissen. Er zeigte mir ein Modell des Monuments als Kopf auf einem Postament. Mein erschrockenes Gesicht genau beobachtend, meinte der Bildhauer schließlich, es sei auch für ihn ein ungewöhnlicher Entwurf. 


Was war Ihre Meinung zu diesem Entwurf?

Professor Kerbel wollte wissen, wie man in Karl-Marx-Stadt auf diese Variante reagieren werde. Ich versuchte ihm verständlich zu machen, dass zu diesem ungewöhnlichen Entwurf wohl die meisten Verantwortlichen von Partei und Regierung keine positive oder sogar ablehnende Haltung einnehmen werden. Das bestätigte sich dann auch: Nach tagelangen Diskussionen über eine bildkünstlerische Gestaltung im städtebaulichen Raum sowie über die Gesetzmäßigkeiten einer Monumentalkunst im Atelier Kerbels musste ich schließlich bestätigen, dass nicht der Person Karl Marx ein Denkmal gesetzt werden müsse, aber den Namen der Stadt mit der im Kopfe des Philosophen entstandenen Idee zu verbinden, könnte mit diesem neuen Entwurf am besten zum Ausdruck kommen. 


Wodurch sind die kritischen Stimmen aus Politik und Kunst verklungen?

Dem Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht waren die kritischen Stimmen der Künstler nicht verborgen geblieben. Deshalb sah er sich veranlasst, mit der Parteiführung des Bezirkes, dem Bildhauer Lew Jefimowitsch Kerbel und dem Stadtplaner eine Aussprache durchzuführen. Während der Diskussion im Staatsratsgebäude äußerte er sich wohlwollend zu dieser geplanten Variante als eine Einheit von Städtebau und Architektur. Aber zur Bildung einer Meinung aller Beteiligten dazu schlug er vor, in Karl-Marx-Stadt eine Problemdiskussion mit namhaften Persönlichkeiten von Politik und Kultur der DDR durchzuführen. Diese fand im Mai 1968 statt und endete mit einer Zustimmung zu dem Entwurf. 


Welche Momente beim Bau des Karl-Marx-Monumentes bleiben Ihnen für immer in Erinnerung?

Ich erinnere mich besonders an die Worte von Professor Kerbel, wonach er das Karl-Marx-Monument für die Stadt mit dem Namen des Philosophen aus 17 verschiedenen Varianten entwickelt habe. Auch sei er zu der Überzeugung gekommen, dass es zu seinen besten Kunstwerken zählen werde. 


Welchen Stellenwert hatten die Planung und der Bau des Monumentes damals? 

Für die damalige DDR ging es um eine neue Gestaltung des Zentrums von Karl-Marx-Stadt als der Stadt der Arbeiterklasse. Besonders die gigantische Karl-Marx-Büste wurde als ein Symbol der sozialistischen DDR-Ideologie bezeichnet. Einige Mitglieder der Bauakademie der DDR bezeichneten mit sehr übertriebenem Pathos das Ensemble im Stadtzentrumskern als einen Modellfall für die Geschichte des Aufbaues der Städte in der DDR. Ich fand das ungeheuerlich übertrieben. 


Mussten andere Projekte hinter dem Karl-Marx-Monument zurückstehen?

Im Zusammenhang mit der Grundsteinlegung zu diesem Monument rief die SED-Bezirksleitung die Menschen zu einer Spendenaktion mit dem Titel »Meine Tat für Karl Marx« auf. Aber das Ergebnis war offensichtlich unbefriedigend. Deshalb wurde versucht, größere Volkseigene Betriebe zu einer Spende aus deren Sozialfonds aufzufordern. Aber auch diese Aktion lief ins Leere. Deshalb musste das zuständige Ministerium die Gesamtfinanzierung des Monuments durch den Kulturfonds übernehmen. Zurückstellungen anderer Objekte des Stadtzentrums waren dann die Folge. Aber drei Jahre nach der Enthüllung des Monuments im Oktober 1971 musste der gesamte Wiederaufbau des Stadtzentrums wegen der schwachen DDR-Wirtschaftskraft insgesamt eingestellt werden. Damit blieben unzählige Baulücken zurück. 


Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie das fertige Karl-Marx-Monument zum ersten Mal gesehen haben?

Ich gewann die Überzeugung, dass dieses städtebauliche Ensemble mit dem Kunstwerk Lew Kerbels nur durch die gemeinsame Arbeit aller Beteiligten möglich wurde. Meine anfänglich teilweise noch vorhandenen Bedenken zur gewählten Größe des bronzenen Karl-Marx-Kopfes wurden damit auch beseitigt. Umfang und Tiefe des gesamten städtebaulichen Raumes sowie die Gestaltung der Schrift an der Rückwand stellen eine gelungene Einheit dar. Aber besonders der vom Künstler gewählte nachdenkliche Gesichtsausdruck des Karl-Marx-Kopfes sollte für den Betrachter sehr bedeutungsvoll sein.       


Was denken Sie heute über das Karl-Marx-Monument?  

Von der durch den Parteichef Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED versprochenen weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes war bis zur Enthüllung des Monuments nichts zu spüren. Unter den zum Festakt herbeigerufenen Menschen konnte man beobachten und hören, mit welchen Gedanken und Bemerkungen die Bürger dieser Veranstaltung beiwohnten und welchen Eindruck das Karl-Marx-Monument auf sie machte. Vereint mit Hunderttausenden Bürgern der DDR begannen sie schließlich am 4. November 1989 genau vor diesem Monument ihre Demonstrationen, um sich der bankrotten DDR-Führung zu entledigen. 


Ist der Wiederaufbau des Stadtzentrums aus Ihrer Sicht gut umgesetzt worden?  

Unmittelbar nach 1990 bezeichnete man oft einige Bau- und Kunstwerke aus der DDR-Zeit wegen ihrer Verherrlichung oder Nutzung durch die Vertreter der Diktatur des Proletariats der DDR als unliebsame Hinterlassenschaft und diskutierte auch über einen Abriss des politisch motivierten Monuments.

Jedoch bei einer zeitlich differenzierten Betrachtung ist man zu einer anderen Einstellung gekommen und sieht in dem außergewöhnlichen Karl-Marx-Kopf ein Kunstwerk. Heute verabredet man sich vor dem bronzenen Karl Marx und organisiert dort viele Veranstaltungen. Und so wie sich die Lebensprozesse der Menschen verändert haben, so veränderte sich auch deren Einstellung zum Monument.

Der im Jahre 2002 mit 85 Jahren verstorbene Bildhauer Professor Lew Jefimowitsch Kerbel schuf mit großer Meisterschaft, Ideenreichtum und zähem Ringen meiner Meinung nach ein überragendes Kunstwerk mit höchstmöglicher künstlerischer Aussagekraft, welches das Gesicht von Chemnitz in unverwechselbarer Weise prägt. Ihm ist es gelungen, ein beeindruckendes und überzeugendes, einmaliges Denkmal zu schaffen. Heute gehört das oft fotografierte Ensemble des Stadtzentrums mit dem Karl-Marx-Monument zur Geschichte von Chemnitz.

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