Stolpersteine in Chemnitz
Verlegeort:
Leonhardtstraße 23
Stolperstein-Verlegung am:
6. Mai 2021
Lebensweg
Helene Nestler war eine der vielen Menschen, die im NS-Staat aufgrund von psychischen Krankheiten oder Behinderung diskriminiert und in einer der »Euthanasie«-Anstalten ermordet wurden. Im Jahr 1931 war sie Patientin der Nervenheilanstalt Chemnitz.
Renate Baldyga erinnert sich an ihre Großmutter, die sie allerdings nie kennenlernen konnte: „Sie wurde in Mildenau als fünftes von sieben Kindern geboren. Später zog die Familie nach Annaberg. Dort wurde am 5. November 1921 ihre Tochter als uneheliches Kind geboren. Erst am 12. Mai 1923 heiratete sie Richard Nestler, auf Druck ihrer Eltern legalisierten sie so die Verbindung. Am 24. März 1924 wurde ihr Sohn Erhard geboren, mein Vater.
Die ersten Jahre war Richard selten bei seiner Familie, als Polizeihauptwachmeister lebte und arbeitete er in Zwickau. Mein Vater und meine Tante erinnerten sich, dass sie die Mutter immer wieder zu einem »Nervenarzt « begleitet hatten, ohne je den Grund dafür zu kennen. Zu Hause habe sie häufig traurig und still in der Wohnung gesessen, die Hausarbeit nicht geschafft. Am 3. Mai 1932 wurde Helene auf Veranlassung ihres Ehemannes in der Heilund Pflegeanstalt Zschadraß aufgenommen.
Meine Oma gehörte zu den ersten Patienten, die in einem Sammeltransport (»Aktion T4«) am 8. August 1940 zur Vergasung in die Tötungsanstalt Sonnenstein verlegt und mit hoher Wahrscheinlichkeit am selben Tag ermordet wurden.
Mein Vater ist nach dem Krieg im Westen geblieben. Durch die Gründung der DDR fand jährlich nur ein Besuch bei meiner Tante in Chemnitz statt. Als meine Cousins und ich alt genug waren, um Fragen zu unserer Oma zu stellen, wurde klar, dass dies ein Tabuthema war. Richard Nestler hatte sich 1934 scheiden lassen, hatte wieder geheiratet und noch eine weitere Tochter bekommen. Für meinen Vater und seine Schwester wurde der Alltag mit Stiefmutter und Stiefschwester schließlich immer problematischer: Mehr oder weniger mussten sich beide Geschwister selbst versorgen. Sie erinnern sich lediglich an einen Besuch in Zschadraß – mit ihnen wurde nie über das Schicksal der Mutter gesprochen, sie stellten nie Fragen.
Erst 1967 hat Richard Nestler meinem Vater seine Geburtsurkunde ausgehändigt, auf der Rückseite stand der Vermerk: »Mutter Martha, gest. 22. 8. 1940, 4:25 Uhr, in Hartheim bei Linz«. Obwohl er wusste, was geschehen war, hatte er seine Kinder nie über die Todesursache ihrer Mutter in Kenntnis gesetzt, auch nicht, als diese längst eigene Familien gegründet hatten. Als Polizeibeamter kannte er gewiss die traurige Wahrheit. Bei einem Besuch nach dem Mauerfall wollte ich zum Leben und Tod meiner Oma Nachforschungen anstellen, stieß dabei jedoch auf große Ablehnung. Immer wieder befragte ich meinen Vater zu Erinnerungen von damals – doch erst als Achtzigjähriger hat er sich diesem schmerzhaften Thema stellen können und war mit meinen Recherchen schließlich einverstanden.«
Hier liegt der Stolperstein für Martha Helene Nestler:
Stolpersteine in Chemnitz
Es ist ein Projekt gegen das Vergessen: in Chemnitz werden seit 2007 jährlich Stolpersteine verlegt.
Eingelassen in den Bürgersteig, erinnern die Gedenksteine an tragische Schicksale von Mitbürgern, die während des nationalsozialistischen Regimes verfolgt, deportiert, ermordet oder in den Tod getrieben wurden.
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