Mit Forscherdrang Geschichten sammeln
Veronica Scholz
Macherin der Woche vom 8. April 2015
Veronica Scholz ist im Jahr der friedlichen Revolution 1989 in Gießen geboren. Als sie zum Studium nach Chemnitz kam, wusste sie nichts von der Geschichte, die diese beiden Städte verbindet. In Karl-Marx-Stadt stand das Gefängnis, das 30.000 politische Häftlinge durchlaufen mussten, bevor sie durch den Häftlingsfreikauf der Bundesrepublik das Land verlassen konnten und schließlich ins Notaufnahmelager nach Gießen gebracht wurden. Die 26-Jährige begibt sich gemeinsam mit anderen Europa-Studien-Studenten der TU Chemnitz auf die Spuren der Geschichte des Kaßberg-Gefängnisses und des Notaufnahmelagers Gießen. Vom Samstag, den 11. April bis zum nächsten Mittwoch laden sie gemeinsam mit anderen Studierenden zu den „Tagen des offenen Tors“.
Wie hast Du das erste Mal vom Kaßberg-Gefängnis gehört?
Veronica Scholz: Als ich neu war in der Stadt, habe ich nach dem Weg gefragt und kam mit einem Chemnitzer Passanten ins Gespräch. Er hörte, dass ich nicht aus der Gegend komme. Ich erzählte ihm, dass ich aus Gießen stamme und er antwortet gleich: Ah, Gießen. Er erzählte vom Häftlingsfreikauf in der DDR und dass Chemnitz und Gießen eine besondere Geschichte verbindet. Das wusste ich vorher gar nicht.
Wird die Geschichte der Gefängnisse zu wenig beleuchtet?
Wenn man etwas über Stasi-Gefängnisse hört, dann Hohenschönhausen-Berlin. 1989 war das die größte Haftanstalt in der DDR. 1989 war jedoch das Kaßberg-Gefängnis die größte Stasi-Untersuchungshaftanstalt in der DDR. Das bleibt immer etwas im Schatten, obwohl die Geschichte so spannend ist. Alle politischen Häftlinge, die in der DDR freigekauft wurden, wurden erstmal nach Karl-Marx-Stadt und von hier aus mit Bussen nach Gießen gebracht. Gießen war auch das zentrale und damit einzige Notaufnahmelager der gesamten Bundesrepublik, das die Häftlinge dort aufgenommen hat.
Wann hast du das Kaßberg-Gefängnis dann das erste Mal gesehen?
Das war bei dem Kunst- und Kulturfestival begehungen 2011. In einem Geschichtsseminar zu Repressionsorten in Chemnitz habe ich mich dann intensiv mit dem Gebäude beschäftigt. Wir haben schnell gemerkt, dass es ein sehr forschungsorientiertes Seminar war. Wir haben Stasi-Akten gelesen und in Archiven gestöbert.
Warum interessiert Ihr Euch für diesen Ort?
Die Verbindung zu Gießen war für mich persönlich natürlich spannend, weil es für meine Generation eine relativ unbekannte und unerforschte Geschichte ist. Und wenn man merkt, dass man etwas erforscht, wie niemand anderes vor einem, ist das etwas Besonderes. Das treibt einen an. Und die Zeitzeugengespräche, die ich geführt habe, waren sehr intensiv und beeindruckend.
Was habt ihr ab dem 11. April vor?
Wir sind eine Gruppe von jungen Menschen, die Europäische Geschichte oder Europa Studien studieren. Wir öffnen fünf Tage lang ab 11. April das Gefängnis. „Tage des offenen Tors“ haben wir unser Projekt genannt. Wir wollen informieren, gedenken und diskutieren. Wir präsentieren unter anderem unsere eigenen Forschungsergebnisse. Ein Kommilitone wird seine Forschungsarbeit zur Geschichte des Gefängnisses in der NS-Zeit vorstellen. Ich selbst habe die Geschichte zur Sowjetischen Besatzungszeit rekonstruiert. Wir wollen Gespräche und Führungen mit Zeitzeugen anbieten. Ausstellungen werden die Geschichte des Hauses aufzeigen. Dabei gibt es auch eine Fotoausstellung aus Gießen von Karl-Heinz Brunk, der den Häftlingsfreikauf heimlich fotografiert hat.
Mit welchen Partnern in Chemnitz arbeitet ihr zusammen?
Zum Beispiel mit den Kirchen. Es wird eine Innerdeutsche Friedensandacht geben, die von Pfarrer Brenner vom Ev.-Luth. Kirchenbezirk Chemnitz und Pfarrer Wagner aus Gießen gemeinsam veranstaltet wird. In dieser Andacht werden sie an 25 Jahre Deutsche Einheit und die gemeinsame Geschichte des Häftlingsfreikaufs zwischen Karl-Marx-Stadt und Gießen erinnern. Wir arbeiten darüber hinaus mit dem Verein Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. zusammen ebenso wie mit der Stasi-Unterlagenbehörde und der TU Chemnitz. Außerdem haben wir viele weitere Förderer.
Was bietet ihr sonst noch außergewöhnliches?
Kultur darf natürlich nicht fehlen. Wir haben es „erlebbare Gefängnisgehung“ genannt. Es wird an drei Abenden mit Licht- und Audioeffekten gearbeitet. Wir werden den Universitätschor und das Erwachsenenorchester der Städtischen Musikschule hören können. Die Besucher sollen diesen Ort einmal anders kennen lernen, aber auch die Geschichte nicht vergessen. Um die Woche abzuschließen, laden wir am 15. April zu einem Vortrag, in dem sich eine Wissenschaftlerin aus Gießen mit dem Notaufnahmeverfahren beschäftigt. Anschließend findet eine Podiumsdiskussion statt mit Gästen aus Politik, Wissenschaft und Vertretern, die an der Nachnutzung des Gebäudes interessiert sind.
Konntest Du von deinen Beziehungen nach Gießen bei dem Projekt profitieren?
(lacht) Mittlerweile bin ich Chemnitz besser vernetzt als in Gießen. Den Pfarrer habe ich persönlich angesprochen. Ansonsten sind wir den offiziellen Weg gegangen und es war schnell klar, wer Ansprechpartner ist und uns unterstützt.
An was konkret hast du geforscht?
Mein Titel heißt: Die sowjetischen Dienststellen in Chemnitz und Karl-Marx-Stadt 1945-1989. Das klingt erst einmal langweilig. Ist es aber nicht, wenn man sich überlegt, dass die sowjetischen Dienststellen vom sowjetischen Geheimdienst genutzt wurden. Ich habe Repressionsorte in Chemnitz gesucht, zum Beispiel Haftkeller. Dort wurden Menschen, die in Verdacht geraten waren, eingesperrt, verhört und teilweise auch misshandelt. Das Kaßberg-Gefängnis ist bei meiner Forschungsarbeit natürlich ein zentraler Ort. Es gibt aber auch einiges in Siegmar oder in der Carolastraße. Das ist das Spannende: Man klingelt dort und die Leute wissen gar nicht, was in ihren Keller einmal passiert ist.
Wie gehen die Chemnitzer mit ihrer Geschichte aus deiner Sicht um?
Es gibt noch viele Ressentiments. Aber auch noch viele Geschichten. Zum Kaßberg-Gefängnis gibt es immer jemanden, der etwas erzählen kann. Das war für mich eine Motivation, diese Geschichten wieder an den Tag zu bringen, weil es schade wäre, wenn sie vergessen würden. Bisher haben die Bürger noch zu wenig über die Geschichte des Gebäudes nachgedacht und hinterfragt, finde ich. Das Interesse ist aber da.
Hat sich durch die Arbeit an dem Projekt deine Sicht auf Chemnitz geändert?
Ich habe mehr von Chemnitz kennengelernt, nicht nur die Keller. (lacht) Ich habe von der Geschichte und der Bedeutung der Stadt viel erfahren. Als ich hier ankam, gab’s noch nicht Kraftklub. Da gab es eben nur Chemnitz und die üblichen Klischees. Und da musste man sich immer rechtfertigen.
Was ist heute dein Bild von der Stadt?
Hier kann man noch etwas machen, etwas bewegen. Auf der einen Seite ist es traurig, dass das Gefängnis leer steht und niemand vorher auf diese Idee gekommen ist, das Projekt zu machen. Das erstaunt mich, aber war für uns eine Chance.
War es leicht, als Studenten so etwas auf die Beine zu stellen?
Das ist ja das Schöne. In Chemnitz gibt es noch viele Freiräume und Platz für Ideen. Natürlich braucht man Unterstützung. Daran können manche Sachen scheitern. Man muss dran bleiben, Förderer finden. Bei uns hat das letztlich gut geklappt. Die andere Frage ist, ob es angenommen wird. Das ist manchmal etwas schwierig in Chemnitz. Es gibt schöne Sache, viele Initiativen. Manchmal ist da der Zulauf nicht so, wie es in anderen Städten der Fall wäre. Aber mal gucken. Nach dem Projekt kann ich darüber besser urteilen.
Muss man den Chemnitzern Mut machen?
Ja, ich habe den Eindruck. Ich erwische mich ja selbst auch dabei, wie ich mich erkläre und Chemnitz verteidige.
„Tage des offenen Tors“ vom 11.-15. April 2015 im Kaßberg-Gefängnis Chemnitz
Initiiert von Studierenden und Alumni der TU Chemnitz in Kooperation mit dem Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. sowie dem Sächsischen Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen Herrn Rathenow. Ermöglicht durch die freundliche Bereitstellung des Gebäudes durch den Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien- und Baumanagement (SIB). Mehr Informationen unter http://projekt.gedenkort-kassberg.de