Auch ich bin die Stadt
Renate Aris
Macherin der Woche vom 1. April 2015
Nur wenige Minuten vom Chemnitzer Stadtzentrums entfernt liegt am Fuße des Kapellenberges die Synagoge. Ein modernes Haus aus Glas und Beton, das, würde es nicht in der verkehrsberuhigten Stollberger Straße stehen, wahres Aufsehen erregen kann. Renate Aris kennt den Bau in- und auswendig. Die 79-jährige ist heute ausnahmsweise nicht für eine der zahlreichen Führungen gebucht.
Welche Aufgaben haben Sie in der jüdischen Gemeinde?
Renate Aris: Ich bin Rentnerin und alles, was ich tue, ist ehrenamtlich. Meine Haupttätigkeit besteht vor allem aus Führungen durch die Synagoge und das Gemeindezentrum und Vorträgen. Vor allem, und das ist das erfreuliche, für Schulen. Aber auch andere Bevölkerungskreise. Aus Chemnitz und der näheren und weiteren Umgebung. Seit zwölf Jahren bietet ich auch Kurse an der Volkshochschule zu jüdischen Themen an.
Und was erzählen Sie?
Es gibt sehr viel zu erzählen! Über die Synagoge, die Religion, über die Geschichte der Gemeinde, aber auch über den Nationalsozialismus und die Judenverfolgung. Da gibt es ganz große Wissenslücken, auch bei Erwachsenen. Man muss ja sagen, dass die jüdische Gemeinde bis zur Wende, bis zum Bau der Synagoge nicht in Erscheinung getreten ist. Die Gemeinde wurde immer kleiner und der biologische Exitus war vorprogrammiert. 1988 stieß ich damals zu den zwölf Mitgliedern hinzu. Wir waren 13! Dieser Wandel, hin zu einer über 600 mitgliederstarken Gemeinde, war nur durch den Zuzug von jüdischen Bürgern aus der ehemaligen Sowjetunion möglich. Auch das gilt es, zu erzählen. Heute bestehen wir zu 99 Prozent aus Zuwanderern.
Vor über 140 Jahren hatten sich jüdische Kaufleute aus Berlin und anderen Teilen des Königreiches Preußen entschlossen, ihren Wohnsitz nach Chemnitz zu verlegen. Sie gründeten trotz innerer Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten mit den Landesbehörden in Dresden am 19. November 1885 im Hotel „Reichold“- unweit des Hauptbahnhofs - die „Israelitische Religionsgemeinde zu Chemnitz“. Die Jüdische Gemeinde wuchs stetig, 1911 lebten 1800 Juden im Chemnitzer Gemeindebezirk. Ab 1. April 1933 begann nach der nationalsozialistischen Machtergreifung der Boykott jüdischer Geschäfte, Firmen und Arztpraxen. Mit den Novemberpogromen 1938, als in ganz Deutschland jüdische Gotteshäuser brannten, begann das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. In den Folgejahren wurden die Juden verfolgt, vertrieben und ermordet, so auch in Chemnitz. Zwischen 1942 – 45 wurden fast alle noch in Chemnitz wohnhaften Bürger in Vernichtungslager des Ostens oder nach Theresienstadt deportiert. Nur wenige kehrten kurz nach dem Kriegsende am 8. Mai 1945 nach Chemnitz zurück – bis 1946 waren es etwa 60 Personen. Die Chemnitzer Gemeinde mit rund 600 Mitgliedern ist heute eine der aktivsten jüdischen Gemeinden in den neuen Bundesländern. Neben den Gottesdiensten zu Schabbat werden alle Feiertage während des jüdischen Jahres begangen. Unter dem Dach der Gemeinde haben sich Vereine, ein Gemeindechor und eine Tanzgruppe gebildet, die das kulturelle Leben der Stadt bereichern.
Warum sind Sie damals nach Chemnitz gekommen?
Ich war damals schon hier tätig. Ich arbeitete im Fernsehstudio in Siegmar seit 1969. Geboren bin ich in Dresden, habe dort den Holocaust überlebt. Ich wohnte später in Dresden im Stadtteil Weißer Hirsch. Schönste Wohnlage, die man sich überhaupt denken konnte. Wenn ich aus dem Fenster geschaut habe, hatte ich das gesamte Panorama von Dresden vor mir. Ich kannte das Zentrum von Karl-Marx-Stadt. Damals konnte man von der Terrasse des Chemnitzer Hofes bis zur Rathaustür gucken. Auf der Terrasse des Chemnitzer Hofes habe ich da gesessen und dachte: Nie in diese Stadt! Nur über deine Leiche. Ich lebe jetzt hier über vier Jahrzehnte. Erst nach dem Tod meines Vaters s. A. habe ich mich 1988 der Gemeinde angeschlossen. Und ich habe ganz besonders den Aufbau nach der Wende erlebt. Die Neugestaltung, die Wandlung, mit allen Problemen die es gibt, ist enorm. Wenn Sie heute vor dem Rathaus stehen, erinnert sich niemand an den großen Parkplatz. Und genau dort taucht heute jeder in das Geschäftsleben der Galerie Roter Turm ein. Keiner denkt mehr dran, wie es vor 15 oder 20 Jahren aussah. Selbst mir geht das so.
Wie haben Sie sich damals in die Gemeinde eingebracht?
Ich war zwölf Jahre Mitglied des Präsidiums des Landesvorstandes der Juden in Sachsen, dessen Vorsitzender seit Jahren mein Bruder ist. Ich war 15 Jahre Leitungsmitglied hier in der Gemeinde, Vertretung des langjährigen Vorsitzenden Sigmund Rotstein, zwei Jahre Vorsitzende des damals 15-köpfigen Gemeinderates, zwei Jahre Vorsitzende der Revisionskommission. Ich habe 1999 den jüdischen Frauenverein der Gemeinde gegründet, den ich heute noch leite. Als meine wichtigste Aufgabe habe ich gesehen, den zu uns gekommenen Menschen die Geschichte der Juden und Sachsen näher zu bringen. Sozusagen auf jüdischen Spuren zu wandeln. So besuchten wir viele jüdische Gemeinden in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Vorträge über Religion, Kommunalpolitik und fröhliches Zusammensein sind dabei nicht zu kurz gekommen.
Was haben Sie den Gemeindemitgliedern, wenn sie neu nach Chemnitz kamen, gezeigt?
Angefangen habe ich mit Stadtspaziergängen. Dass Sie die Umgebung und die Stadt kennenlernen. Oder einen Besuch im Chemnitzer Rathaus mit dem Türmer, der ein sehr engagierter Mann ist und es versteht, neu angekommenen Menschen die Stadt Chemnitz nahe zu bringen.
Welche Themen spielen bei Ihren Vorträgen heute eine Rolle?
Das Thema meiner Vorträge ist: Im Holocaust gelebt und überlebt. Eine Biografie. Denn wir sind die Letzten. Bald gibt es niemanden mehr, der davon berichten kann. Die schlimmste Ära des 20. Jahrhunderts ist heute schon Geschichte. Und es gibt immer wieder Leute, die die Geschichte nach ihrer Gesinnung verfälschen. Es gibt heute Leute, die uns unsere Biografien erzählen wollen. Diesen Vortrag habe ich auch in anderen Städten des Umlandes und anderen Bundesländern gehalten.
Wie wichtig sind die Tage der jüdischen Kultur für das jüdische Leben in der Stadt?
Mittlerweile sind die Tage der jüdischen Kultur ja zwei Wochen geworden. Zum 24. Mal fanden sie dieses Jahr statt mit über 70 Veranstaltungen mit immer steigendem Echo. Besonders beliebt sind die Eröffnungsveranstaltungen, die von hunderten Menschen und zu meiner Freude, was sonst nicht so oft der Fall ist, auch von vielen Jugendlichen besucht werden. Eröffnet wurden die Tage mehrfach in den Kunstsammlungen, dieses Jahr im Staatlichen Museum für Archäologie. Zur Gestaltung trugen internationale Künstler bei. Beispiele des Programmes sind Ausstellungseröffnungen, Lesungen, Konzerte, Vorträge, öffentlicher Gottesdienst und anderes mehr sowie Friedhofsführungen auf den unter Denkmalschutz stehenden jüdischen Friedhof und Stadtrundgänge auf jüdischen Spuren durch den Historiker Dr. Jürgen Nitsche. Sie zeigen die Vielfältigkeit der Veranstaltungen bei den Tagen der jüdischen Kultur. Alles Themen, die der Bevölkerung den Zugang zum jüdischen Leben ermöglichen. Unsere frühere Gemeinde war in einem unauffälligen Wohnhaus. Es war also kein Wunder, dass die Chemnitzer Bevölkerung die kleine jüdische Gemeinde lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen hat. Das ist heute anders geworden.
Fühlen Sie sich als Jüdin in Chemnitz geborgen?
Wir können uns in Chemnitz glücklich fühlen. Wir sind der Stadt sehr dankbar. Die Oberbürgermeisterin hat immer ein offenes Ohr. Natürlich können sie auch nicht alles klären, aber uns wird zugehört. Wir fühlen uns als jüdische Gemeinde in dieser Stadt geborgen. Und das ist, glaube ich, wichtig.
Gibt es etwas, das Sie besonders stolz macht?
Ein besonderer Stolz ist das Gemeindezentrum und die Synagoge. Für unseren ehemaligen Vorsitzenden Sigmund Rotstein, der in jungen Jahren das KZ überlebt hat, war es ein utopischer Gedanke, wie für meinen Vater in Dresden auch: Es wird mal eine neue Synagoge geben. Wir werden mal wieder mehrere hundert Mitglieder haben. Das war Utopie. Durch die Wende wuchsen die Gemeinden sprunghaft. In Dresden war die Synagoge schon im Bau. Der damalige Oberbürgermeister Dr. Peter Seifert hat unseren Gedanken sofort aufgegriffen.
Die erste Synagoge in Chemnitz wurde am 7. März 1899 vom Chemnitzer Architekten Wenzel Bürger am Stephanplatz geweiht. Der bald als „Zierde des Kaßbergs“ geltende Sakralbau mit seinen roten Backsteinmauern und grünen Kupferdächern bot über 700 Menschen Platz. Das Haus wurde bei den Novemberpogromen am 9. November 1939 angezündet und vollkommen zerstört. Nach dem Krieg wurde ein neues Gemeindehaus 1961 am Rande des Kapellenbergs geweiht. Als mit der Wende 1989/90 das wiedervereinigte Deutschland die neue Heimat für viele Juden aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wurde, zog in Chemnitz neues jüdisches Leben ein. Die neue Synagoge in der Stollberger Straße wurde im Mai 2002 eingeweiht.
Was denken Sie heute von dem realisierten Bau?
Es ist ein ungewöhnlicher Bau in einem Wohngebiet. Dieser Bau war eher da als die modernen Bauten in der Stadt und hat eine große Ausstrahlungskraft. Wir können darauf stolz sein. Am Tag der ersten öffentlichen Führungen kamen über 4000 Menschen, um sich das Gemeindezentrum und die Synagoge anzusehen. Zum ersten öffentlichen Gottesdienst haben die Plätze nicht ausgereicht. Der Zuspruch und das Interesse für die Synagoge und die jüdische Gemeinde sind ungebrochen. Wir freuen uns über jeden, der kommt, und sich ehrlichen Herzens informieren möchte.
Wie arbeiten Sie mit anderen Religionsgemeinschaften in Chemnitz zusammen?
Wir haben die allerbesten Verbindungen zu Superintendent Conzendorf und Pfarrer Brenner, der jedes Jahr die interreligiöse Fahrt macht. Ausgezeichnete Kontakte und Zusammenarbeit gibt es mit der Pfarrerin Lücke, die auch Leiterin des Evangelischen Forum und Vorsitzende der deutsch-isrealischen Gesellschaft ist, deren Schatzmeister ich bin. Es gibt eine enge Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Tage der jüdischen Kultur. Die Zusammenarbeit mit Muslimen ist bisher noch selten. Bei den Kontakten, die wir haben, geht es darum, etwas von dem Anderen zu erfahren. Vor allen Dingen geht es um Achtung vor anderen Religionen. Den Kindern sage ich immer: Ihr habt Menschen vor euch. Egal, wie sie aussehen und wo sie herkommen, es sind Menschen. Bei allen Problemen, die wir miteinander haben können, ist es wichtig, den Menschen zu achten.
Was schätzen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde an dem Leben in der Stadt Chemnitz?
Am besten wäre, Sie würden sie selbst fragen. Die jüdischen Menschen, die hierhergekommen sind und jetzt hier leben, wollen ein ganz normales Leben führen, ihre Religion ausüben und gute Lebens- und Wohnbedingungen haben. Sie sind nicht Mitbürger, sondern Bürger dieser Stadt, Menschen wie jeder andere. Viele haben deutsche Freunde und haben sich gut eingewöhnt. Es wurde den Menschen von Seiten des Staates, der Stadt und des Zentralrates der Juden ein guter Start ermöglicht. Sie müssen selbst zur weiteren Integration beitragen.
Was ist Ihr Bild von Chemnitz?
Den Slogan „Die Stadt bin ich“ kenne ich. Ich sage aber: „Auch ich bin die Stadt.“ Es sind die Menschen, die für mich die Stadt ausmachen. Ich kann mich hier einbringen, mit meinen Kenntnissen Menschen helfen und will gemeinsam mit anderen etwas Gutes für die Stadt und die Menschen bewirken.
Was könnte Chemnitz besser machen?
Vernachlässigt werden aus meiner Sicht die Randgebiete. Die Ruinen, alte Häuser, zum Beispiel an der Zwickauer Straße. Und auch die Pflege von Grünflächen. Mich ärgern ungepflegte Haltestellen und Grünanlagen. Ich wohne in Schönau und wir haben dort sehr schlechte Einkaufsbedingungen.
Muss man den Chemnitzer Mut machen?
Bei allem, was mir auffällt, sollten die Chemnitzer etwas stolzer sein auf das Entstandene. Statt zu Demolieren, Beschmieren oder Meckern. Meine Meinung ist: Das Mittun ist angesagt. Ich lebe hier, ich wohne hier, ich genieße zum Beispiel, was die wunderbaren Kultureinrichtungen bieten, ob Kunstsammlungen oder Theater. Und die These bleibt: Auch ich bin die Stadt.