Chemnitz muss selbstbewusster werden
Matthias Keller
Macher der Woche vom 4. November 2015
Im Eingangsbereich begrüßen unter anderem der Linux-Pinguin und das kleine grüne Android-Logo auf einem Display die Besucher. Klar, hier geht es um Computer. Genauer gesagt um Softwarelösungen. Vor 25 Jahren war die Firma SIGMA Chemnitz GmbH eine der ersten neugegründeten Unternehmen nach der Wiedervereinigung in Chemnitz. Der Start begann in einer Wohnung auf dem Sonnenberg. Seit 1995 sitzt das Unternehmen in Kleinolbersdorf-Altenhain am Stadtrand von Chemnitz. Matthias Keller hat vor vier Jahren bei dem Systemhaus seinen Traumjob gefunden und hat von Anfang an große Projekte begleiten können.
Was genau sind deine Aufgaben bei Sigma?
Matthias Keller: Ich bin Softwareentwickler. Ich entwickle Anwendungen, die dem Kunden helfen, Prozesse in der Produktion oder Logistik zu automatisieren. Beispielsweise sorgt die RFID-Technologie dafür, dass Bauteile in der Produktion erkannt werden und unsere Software verknüpft diese Identifikation mit anderen Daten. Es können dann zu dem Bauteil Informationen angezeigt werden, Maschinen entsprechend eingestellt oder auf Fehler hingewiesen werden.
RFID-Technologie (Radio Frequency Identification) ist ähnlich wie ein Barcode, ein aufklebbares Etikett, das jedoch mittels Funk über größere Distanzen auslesbar ist. Matthias Keller hält ein weißes Papier gegen das Bürolicht und zeigt die kaum sichtbare Antenne und den Chip. Dieser Aufkleber kann ausgelesen und mit Hilfe der SIGMA-Softwarelösung GRAIDWARE® seiner Software wichtige Daten liefern.
„Den Barcode kennen wir ja alle aus dem Supermarkt. Der RFID-Tag hat das gleiche Prinzip, nur kann er erfasst werden, ohne dass es Sichtkontakt zum Auslesegerät geben muss und es können mehrere Bauteile auf einmal erfasst werden“, erklärt der 28-Jährige.
Ihr seid diejenigen, die die RFID-Technologie anwenden. Auf was kommt es euch an?
Das Interessante ist, wie man diese RFID-Technologie für den Kunden nutzen kann. Wir sind diejenigen, die analysieren: was braucht der Kunde, welche Arbeitsschritte gibt es bei ihm, welche Bauteile werden verarbeitet. Viele Fragen müssen geklärt werden: Ist es möglich, die Bauteile mit dem RFID-Tag zu versehen? Welche Geräte werden benötigt und wie können diese in den Arbeitsprozess integriert werden? Wie können verschiedene Modelle und Bauteile den Prozess durchlaufen? Das Softwaresystem, das wir entwickeln, muss die richtigen Schlüsse ziehen, wenn die Nummer aus dem RFID-Tag ausgelesen wurde. Beispielsweise kann die Software Eingaben der Mitarbeiter verarbeiten und Informationen an andere Systeme, wie ein SAP-Warenwirtschaftssystem, weiterleiten.
Wer kann eure Softwarelösung nutzen?
Wir arbeiten vor allem auch für die Automobilzuliefererbranche. Viele Autos, die auf der Straße unterwegs sind, besitzen Bauteile, die mit der von uns eingesetzten Technologie markiert und mit unserer Hilfe produziert worden sind. Wir haben aber auch Kunden aus der Textilbranche, ein großes Projekt gab es mit Soex, das größte Sortier- und Recyclingwerk der Welt. Bei einer großen Eisenhütte in der Lausitz haben wir die Produktion und das Lager automatisiert. Im Prinzip läuft es immer auf das Gleiche hinaus: Ein oder mehrere Teile werden erkannt und dann wird es an das System gemeldet, das den Waren- und Informationsfluss regelt und mit anderen Lieferketten und -systemen kommuniziert.
Die Referenzliste von Sigma ist lang und mit bekannten Namen aus der Region versehen: DRK Kreisverband Annaberg-Buchholz, Piko Spielwaren GmbH, GRETENKORD GmbH und Dr. Quendt sind unter anderem mit dabei. SIGMA wirkte übrigens auch an der Entwicklung eines der ersten Smartphones, das Siemens SX45, mit. Matthias Kellers erster Kunde, den er kennen lernte, war die Magna Exteriors & Interiors Meerane wie sollte es anders sein: ein Automobilzulieferer. Sie wollten an einem neuen Standortes RFID-Technologie für ihre automatisierte Produktions- und Logistiksteuerung nutzen. Über die Softwareentwicklung schrieb er seine Diplomarbeit.
War es selbstverständlich, dass du bei Sigma beruflich einsteigen willst?
Lange Zeit war das nicht klar. Es hätte noch eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten gegeben. Unsere Professur an der TU Chemnitz, geleitet von Prof. Hardt, hat hier sehr gute Kontakte in die Wirtschaft, quasi zu jeder größeren Automobilfirma und Automobilzulieferern. Für mich war aber schnell klar, dass ich lieber selbst eine Software entwickeln will. Diese Perspektive hat sich hier eröffnet. Als Werkstudent konnte ich in dem Projekt Magna Meerane einige Aufgaben übernehmen und selbstständig und kreativ tätig werden: mit Kunden sprechen, Ideen umsetzen. Ich war nicht „nur“ der Student, sondern ich wurde von Kunden und von Kollegen als Teammitglied akzeptiert. Ich habe dann hier meine Diplomarbeit geschrieben und schließlich gab es die Frage, ob ich hier bleiben möchte. Die Entscheidung fiel mir nicht schwer. Der Tag nach meiner Verteidigung war dann mein erster Vollzeitarbeitstag.
Was hat dich überzeugt?
In meinen Augen ist es noch eine relativ kleine Firma, auch wenn sie schon 70 Mitarbeiter hat. Hier gibt es keine großen Hierarchien, ich kann mit Kollegen oder dem Chef konstruktiv und freundschaftlich über alles reden. Es ist wie eine kleine Familie. Da gibt es für mich keinen Grund in ein großes Unternehmen zu gehen, in dem man oft nur eine Nummer ist.
Warum ist die Firma Sigma nach 25 Jahren immer noch hier vor Ort?
Die Firma ist hier gegründet worden und hat die gesamte Entwicklung der Region mitgeprägt. Die Automobil- und Maschinenbaubranche im mittelsächsischen Raum in Chemnitz und Zwickau hat hier auch Tradition und ist nach der Wiedervereinigung wieder gestärkt geworden. Daraus ergeben sich für uns natürlich die Kundenprojekte. Das ist eine gute Lage, auch infrastrukturell sind wir gut angebunden. Außer wenn man privat mit der Bahn verreisen will. Dass Chemnitz keinen vernünftigen Fernverkehrsanschluss besitzt, ist traurig.
Seit wann bist du in Chemnitz?
Ich bin 2007 wegen meines Studiums nach Chemnitz gekommen. Aufgewachsen bin ich Freiberg, auch dort gibt es eine gute Technische Universität. Da ich aber Informatik studieren wollte, habe ich mich für Chemnitz entschieden. Ich wollte auch bewusst nicht nach Dresden. Mit dem Bonus Landeshauptstadt zieht es viele dorthin. Chemnitz hat mir besser gefallen.
Was genau?
Entscheidend war der Ruf der Universität. Heute schätze ich vor allem die vielen Grünflächen. Bei mir um die Ecke ist der Zeißigwald, in dem man Laufen und Sport machen kann. Den Schloßteich zeige ich gern den Leuten, die schlecht von Chemnitz reden. Ich freue mich auch auf den Weihnachtsmarkt. Für laue Sommernächte gibt es ein paar schöne Szenekneipen auf dem Sonnenberg. In Chemnitz kann man eine Menge machen. Die Talsperre Oberrabenstein ist immer wieder ein besonderes Ausflugsziel. Oder auch für eine Wanderung im Erzgebirge haben wir eine ideale Ausgangslage, beispielsweise mag ich Wolkenstein, Zschopau oder das Schwarzwassertal. Das habe ich gerade als Student genutzt und mit Austauschstudenten Ausflüge gemacht.
Nach Feierabend ist der Computer also tatsächlich aus?
Am Abend ist der Computer natürlich noch an, aber nur privat. Für Film, Nachrichten oder um meinem Mitbewohner bei den Studienarbeiten zu helfen. Und es gibt in Chemnitz ja wirklich genügend zu erleben, so dass man nicht vorm Computer sitzen bleiben muss, wenn man das nicht will.
Muss man den Chemnitzern Mut machen?
Ja. Ich habe den Eindruck, dass Chemnitz nicht selbstbewusst genug ist. Die Chemnitzer verstecken sich hinter dem Image, das der Stadt anhaftet. Vielleicht liegt es daran, dass Chemnitz früher Karl-Marx-Stadt hieß und viele Namen aus DDR-Zeiten, die mit dem Erfolg der Stadt verbunden wurden, leider verschwunden sind. Als drittgrößte Stadt kommt Chemnitz eben nach Leipzig und Dresden, obwohl es Disziplinen gibt, in denen Chemnitz die Nummer Eins in Sachsen ist. Chemnitz hat eine super Uni. Manche wünschen sich eine Kunsthochschule? Die brauchen wir aus meiner Sicht nicht.
Wir müssten Chemnitz zum Kompetenzzentrum von Automatisierungstechnologien machen. Da stehen wir zwar in direkter Konkurrenz zu Dresden, können aber locker mithalten. Wir haben in diesem Bereich gute Professoren mit vielen Kontakten und spannenden Projekten. Mein Professor an der Uni hat hier vieles vorangetrieben, mit dem Fachkräftebündnis und der Ringvorlesung allen voran. Chemnitz braucht solche Leute, die den industriellen Charakter, den Chemnitz hat, nutzen und ausbauen. Der Spruch stimmt schon: In Dresden wird das Geld ausgegeben, in Leipzig wird gehandelt und in Chemnitz wird gearbeitet. So kann die Rollenverteilung ruhig sein.