Im Verborgenen

Professorin Ulrike Brummert

Macherin der Woche vom 6. April 2016

Wer Bücher mag - dicke, dünne, große, kleine, alte, neue, bunte, wissenschaftliche - ist im Büro von Ulrike Brummert richtig. Akten, Flyer, Manuskripte auf dem zentralen Konferenztisch.  Ein Klavier. ProjektKunst an den Wänden und im Fenster. Die Professorin für Romanische Kulturwissenschaft an der TU Chemnitz strahlt zur Begrüßung. „Ich lache gern und viel, weil ich so ernst bin“, sagt sie. Sie hat vor 16 Jahren die Campus-Lesenacht eingeführt, sie 2014, zum Chemnitzer Literaturfestival Leselust, ins Tietz gebracht, mit neuem Konzept und neuen Partnern: Lesen und Lesen lassen auf allen Etagen. Wir haben uns mit ihr unterhalten - über die Magie der Bücher, Erinnerungen und eine Stadt hinter den sieben Bergen.

Das Literaturfestival Leselust will wieder einladen, ein Buch in die Hand zu nehmen. Welches Buch liest du zurzeit?
Prof. Ulrike Brummert:
Das ist eine lustige und schwierige Frage für mich, meine Aufgabe ist doch, mir unbekannte Gedanken zu erschließen, sie zu verwandeln und zu diskutieren, so lese ich beständig. Nachts sauge ich auch mal einen Regionalkrimi ein, in einem Zug. Für "14-18 war was" versenke ich mich gerade in den Ausstellungskatalog Schlachthof 5 des Militärhistorischen Museums, zur Sommervorlesung passend "Esprit Montmartre: Die Bohème in Paris um 1900" der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Und da wir für Juni einen literarisch-musikalischen Salon zu Märchen vorbereiten, lese ich Hans Christian Andersen wieder und auch Sagen und Legenden aus dem Erzgebirge. Es gibt mehrere Leseinseln in meiner Wohnung, Hotspots meiner aktuellen Themen.

Warum ziehen Bücher uns immer wieder in ihren Bann? Zeit für ein gutes Buch ist mittlerweile Luxus, vielmehr geht es um schnelle Informationen, Wissensvermittlung. Erreichen Bücher wirklich noch gesellschaftliche Debatten?
Luxus? Weil sie Raum und Zeit beanspruchen? „Ein gutes Buch“ ist ein Mythos. Alle Bücher sind gut, voll von Gedanken in Sprache und Bild, praktisch, kein Stromenergieverbrauch, überall lesbar, außer im Wasser (da gibt es die Chemnitzer Badewannenbücher…), haptisch, sinnlich erfahrbar. Ein Buch wird durch seine Leser_innen zu einem Dauerbrenner. Die eigenen Positionen schärfen sich in Abgrenzung vom Gedruckten. Wer schreibt, der bleibt. Wer liest, der lebt. Bücher sind nachhaltige Entschleuniger.

Schafft das ein Literaturfestival wie die Leselust?
Die Leselust und Lesen überhaupt führt Menschen zusammen. Das Austauschen über unterschiedliche Lektüren ist ein wichtiger gesellschaftlicher Prozess. Umberto Eco sagte in einem seiner letzten Interviews: „Wer sich nicht mit den Gedanken anderer auseinandersetzt, ist ein Autist.“ Das sehe ich auch so.

Seit 16 Jahren organisierst du Lesenächte. Was war dein Antrieb dafür?
Ein lebendiger und spielerischer Campus in einer neugierigen Stadt. Vortragen, Vorlesen, Zuhören sind Schlüsselkompetenzen in allen gesellschaftlichen Bereichen – auch in der Wissenschaft.

Am internationalen Tag des Buches, am 23.4, moderierst du die Chemnitzer Lesenacht, von 16 Uhr bis 24 Uhr wird das Tietz zur Lesebühne mit vielen Veranstaltungen in allen Etagen und Institutionen. Auf was sollten sich die Menschen besonders freuen?
Auf die freudig knisternde, spannungsreiche Atmosphäre mit einem prallen Programm für Jung und Alt, zwischen den Sprachen und Kulturen, mit lukullischen Genüssen, von Don Quijote, Shakespeare, Christa Wolf bis zu Solche im Abschlusskonzert.

Die erste ChemnitzerCampusLesenacht fand 2000 statt in Kooperation zwischen dem Studentenwerk Chemnitz Zwickau, der Buchhandlung Universitas und der Romanischen Kulturwissenschaft der TU. In der damaligen Übergangsmensa waren erstmals Chemnitzer_innen und Studierende eine ganze Nacht zusammen, lasen, aßen (Fettbemmen & Soleier), tranken und diskutierten, in bekannten und weniger bekannten Sprachen wie Okzitanisch und Chinesisch, alle Textsorten waren präsent – auch Gebrauchsanweisungen... Die jährliche Veranstaltung wurde so beliebt, dass sie bald auf bis zu 700 Besuchern anwuchs. „Es war auch eine Bühne für eigene Texte. Bei der Campuslesenacht haben sich manche Chemnitzer Autor_innen zum ersten Mal getraut, Selbstverfasstes vorzustellen“, erinnert sich Brummert, so ist sie vollauf begeistert,  dass es mittlerweile mehrere offene Bühnen und Leseveranstaltungen über das ganze Jahr in der Stadt gibt.

Warum ist die Lesenacht von der Mensa ins Tietz gezogen?
Wir laden nun zum dritten Mal zur Lesenacht in das Tietz ein. Ich finde es wichtig, dass die Universität direkt in der Stadt Präsenz zeigt. Immer haben auch Chemnitzer_innen zur Lesenacht auf den Campus gefunden. Aber das Tietz ist so ein wunderbares Gebäude, was dieser weiteren intensiven Belebung bedarf. Es eignet sich hervorragend für ein Lesefest durch den Lichthof mit dem Steinernen Wald im Zentrum. Auf den Vorplatz kann wieder jeder Zitate  mit Kreide einschreiben. Das Zusammenspiel mit den Institutionen des Hauses, der Stadtbibliothek, der Volkshochschule, dem Naturkundemuseum, der Neuen Sächsischen Galerie funktioniert. Kurz nach der Leselust finden wir uns zusammen, werten aus, modifizieren und bereiten bereits das nächste Jahr vor.

Mit Stefan Heym und Stephan Hermlin haben wir anerkannte Literaten, die aus der Stadt kommen. Ist da Nachwuchs in Sicht?
Irmtraud Morgner gehört zur Clique der anerkannten „Alten“. Es gibt viele Zirkel, Clubs und Bühnen (wie die Neuen: Komplex und Nichts), in denen Spannendes passiert. Angela Krauß, Kerstin Hensel, Hans Brinkmann, Günter Saalmann sind mit der Stadt verbundene Schriftsteller_innen, deren Werk bleiben wird. Ich lese auch viele anspruchsvolle, freie, d.h.nicht wissenschaftliche, Texte von Studierenden, da verbirgt sich Potenzial!

In deinen Vorlesungen geht es schon mal um Liebe und Hass, um Farben, und es gibt sogar Vorlesungen ohne Titel. Müssen die Kulturwissenschaften immer etwas übertreiben? Muss die Kultur immer etwas mehr leisten, um wahrgenommen zu werden?
Am Anfang der Industrialisierung sind Kunst und Technik eng miteinander verbunden, man denke an die Weltausstellungen, die Präsenz des maschinellen Fortschritts in Bildern des Impressionismus z.B. Ich habe noch nie gelungene innovative Technik gesehen, die nicht auch einen hohen ästhetischen Anspruch einlöst.

Was heißt das für Chemnitz, das ja dafür bekannt ist, im technischen Bereichen stark zu sein?
Die theoretische Entwicklung neuer Technologien und die praktische maschinelle und unternehmerische  Umsetzung in der Warenproduktion sind in Chemnitz immer Hand in Hand gegangen, das hat das kollektive Gedächtnis geprägt. So konnte Herbert Esche auch nur Henry van de Velde und Edvard Munch einladen, eben weil er ein erfolgreicher Industrieller war wie Karl Ernst Osthaus in Hagen. Dieses fruchtbare Zusammenspiel müsste man viel stärker in Chemnitz betonen. Der Vater von Ernst Ludwig Kirchner kam wegen der florierenden Industrie nach Chemnitz. Die Künstlergruppe Die Brücke konstituierte sich hier in dieser Stadt aus den „Heimischen“ und den „Zugereisten“. Clara Mosch in Karl-Marx-Stadt war revolutionär; die noch lebenden Künstler prägen die Welt weiter, wie Carsten Nicolai, Osmar Osten und Uwe Mühlberg der nachfolgenden Generation.

Machen wir es uns ausreichend bewusst? Weiß man es in der Welt, da draußen? Woran liegt das?
Chemnitz ist eine Gebirgsstadt. Das hat auch immer etwas (natürlich) Abgeschottetes. Hier gibt es keine große Durchgangsstraße, wie eine via regia, nur eine Nebenroute nach Santiago de Compostela; die alte Salzstraße von Halle (Saale) nach Prag führte östlich an der Stadt vorbei. Und das zeigt sich aktuell schmerzlich: Die indiskutable Anbindung von Chemnitz an den Fernverkehr. Ob die Bahnstrecke nach Leipzig nun elektrifiziert wird, ist zweitrangig, aber in einem 30 Minuten Takt sollten funktionstüchtige Züge nach Leipzig rollen. Dieser Herausforderung müssen sich DB Bahn und Stadt stellen. Von der Autobahn plötzlich Espenhain mit  50 km zu queren – ein Schildbürgerstreich für Anwohner und Reisende. So wird Chemnitz zur geheimen Wunderstadt – hinter den sieben Bergen. Wenn man es schafft, die Menschen bis hierher zu locken, sind die meisten überrascht und rundum begeistert.

Arbeitest du selbst mit deinen Studierenden an dem Chemnitz-Bild?
Aus unseren Projekten sind u.a. drei gemeinsam erstellte Fotokataloge entstanden: Ich sehe besonders gern. Stadtphotographien, Chemnitz zur Jahrtausendwende, Lichtzeichen und Plaue. bestand im wandel, über  die sächsische Textilindustrie und über die ehemaligen Baumwollspinnerei in Flöha im speziellen. Die Romanische Kulturwissenschaft kooperiert eng mit allen Museen in der Stadt und bringt sich auch in deren Projekte mit ein. Chemnitz ist in meinen Forschungen sehr präsent. Dort, wo man lebt, forscht man auch. Die Stadt spiegelt.

Ein wichtiges Projekt für dich war und ist „14-18 Was War“, das den ersten Weltkrieg thematisiert. Seit 2014 arbeitest du mit Studierenden daran, Erinnern auszugraben und ins heute zu setzen. Ist euch das bislang gelungen?
Das wird man erst am Ende des Projekts, das die vierjährige Kriegsdauer zitiert, sagen können, (www.14-18warwas.de). So zeigen wir im Tietz eine entsprechend lang dauernde Ausstellung, bei der jeden Monat ein neues Bild aus dem Fundus des Schloßbergmuseums vorgestellt wird – mit informativer Mini-Vernissage. Wir haben mit dem Projekt most excellent! Ausgezeichnet! uns mit Heldensymbolik und der Auszeichnungskultur konfrontiert. Und ein Höhepunkt war auch das Konzert Es umspannt die ganze Welt Weihnachten 2015, das Briefe, Texte und Kompositionen von 1915 und ihre Anverwandlung bis zur Jetztzeit präsentiert hat.

Die nächste Mini-Vernissage der Ausstellung Mit Licht geschossen enthüllt am 3. Mai um 13 Uhr im Tietz eine weitere historische Aufnahme. Die Fotografien dokumentieren, was die Chemnitzer Bevölkerung in dem entsprechenden Kriegsmonat vor 100 Jahren gesehen hat –  von Chemnitzer Leben im Alltag bis hin zum Kriegsgeschehen an den Fronten. Auch am Projekt der Theater Chemnitz Unentdeckte Nachbarn zu Rechtsextremismus hier vor Ort und seiner (Nicht)Wahrnehmung wird sich Brummert beteiligen.

Wie lebt es sich als Kulturmensch in Chemnitz?
Eigentlich wollte ich Maschinenbau studieren (lacht). Ich lebe hier sehr gut. Ich mag die Veranstaltungsbreite der On- und Off-Kultur. In Ton, Gesprochenem, Ausstellungen und kleinen Kunstprojekten. Ich könnte mir das natürlich noch vernetzter vorstellen. Beim Balkonbalett hat mich fasziniert und gefreut, Menschen aus quasi allen kulturellen und sozialen Bereichen an zu treffen. Deswegen habe ich mich auch an dem Nachfolgeprojekt mittwochnachmittag beteiligt.

Was schätzen die Studierenden an Chemnitz?
Der Campus ist wie eine rivalisierende internationale ZweitStadt. Die UrStadt als solche bleibt zuerst im Verborgenen. Sie ist sehr untergründig. Man muss erst durch drei Hinterhöfe, und dann findet man das, was man sucht oder etwas völlig Unerwartetes.

Hast du einen Lieblingsplatz?
Ich mag den Fluss, die Chemnitz, weil ich mir immer ein Leben am Fluss vorgestellt habe. Der Traum ist mir ja erfüllt worden, weil ich direkt an der Chemnitz wohne. Ursprünglich hatte ich an die Garonne oder Seine gedacht (lacht), nun ist es die Chemnitz geworden. Sie ist ein bisschen kleiner, wenn ich sie verspotte, entschuldige ich mich bei ihr. Sie wirkt fröhlich, kann aber auch zum wütenden, gewalttätigen Monster mutieren. Normalerweise ist der Fluss durchsichtig, steinig, leichtfüßig, wechselt die Farben wie seine Forellen. Nachtaktive Fischreiher, stolze Schwäne und kecke Möwen lieben ihn. Einmal habe ich einen Eisvogel hier gesichtet. Als sehr lebendigen Ort mag ich den Schlossteich, der schon von den Benediktinern als Karpfenteich angelegt wurde, standhaft verteidigt wurde, als Investoren ihn im 19. J. trocken legen wollten. Er wird von allen angenommen. Die Bauten des Theaterplatzes liebe ich: die Hüllen und das Innenleben. Ein wenig mehr Grün würde ich dem Ensemble gönnen!

Muss man den Chemnitzern Mut machen?
Wieso? Es ist doch alles da, was eine Stadt zu einer Stadt macht. Warum ist der Chemnitzer nicht so gelassen, wie er sein könnte? Der Chemnitzer schielt immer nach Leipzig und nach Dresden, die eine völlig andere Geschichte haben. Chemnitz ist sehr faszinierend, leutselig und auch spröde. Die Verwerfungen, denen die Stadt ausgesetzt war, waren brutal, sind noch wirkmächtig. Diese Spannung muss manchmal einfach ausgehalten werden.

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