Überraschend in der Perspektive
Franz Knoppe
Macher der Woche vom 26. Oktober 2016
Mit „Unentdeckte Nachbarn“ startet am 1. November 2016 ein politisches Theaterprojekt in Chemnitz, das fünf Jahre nach der Aufdeckung der NSU-Morde die Frage stellt: Wie konnten die Täter unerkannt unter uns leben? Zwischen 2000 und 2006 wurden neun Männer mit Migrationsbiographie und eine deutsche Polizistin ermordet. Die mutmaßlichen Mörder hatten ihr Netzwerk auch hier in Chemnitz. Wie Theater mit diesen Ereignissen umgeht, erzählt uns Projektleiter Franz Knoppe.
Warum ist es wichtig, dass Chemnitz sich mit den NSU-Morden auseinandersetzt?
Franz Knoppe: Chemnitz stand nie so im Fokus der medialen Aufarbeitung der NSU-Verbrechen wie es bei Jena oder Zwickau der Fall war. Es wurde von der Zwickauer Terrorzelle oder dem Thüringer Terrortrio gesprochen. Chemnitz kam dabei so gut wie nicht vor, obwohl sich die drei Verdächtigen zwei Jahre lang hier versteckt haben und von der extremen Szene vor Ort unterstützt wurden. Das Thema liegt also auch hier.
Als wir unsere Idee eines Theatertreffens hier vorgestellt haben, haben wir viel Zustimmung erfahren. Das zeigt mir: Chemnitz hat Interesse an einer eigenen Reflexion. Das macht die Stadt authentisch und das wird auch von außen wahrgenommen. Es gibt eine Stadt in Sachsen, die sich ernsthaft mit Rechtsextremismus auseinandersetzt.
An welchen Orten ist das Theaterprojekt Unentdeckte Nachbarn zu sehen?
Wir konzentrieren uns vorwiegend auf Chemnitz und Zwickau. Wir wollen neben den großen Theatern auch die freie Szene einbinden. Zum Beispiel ist das Weltecho mit dabei – mit einer der spektakulärsten Vorstellungen: „Offener Prozess“. Das wird eine szenische Lesung der NSU-Protokolle der Süddeutschen Zeitung. Fünf Bühnen aus ganz Deutschland zeigen dieses Stück zur gleichen Zeit: Bautzen, Nürnberg, Jena, Zwickau und eben Chemnitz. Weitere Theater sind per Live-Video beteiligt. Wir zeigen damit: Es gibt ein deutschlandweites Kultur- und Kunstnetzwerk, das aufklären will.
Es bringen sich also auch deutschlandweit Künstler in das Theaterprogramm ein?
Ja. Wir haben 13 Stücke im Programm. Unsere künstlerische Leiterin, Laura Linnenbaum, hat sich 80 Theaterstücke deutschlandweit angeschaut und daraus ausgewählt. Wir haben „Taxidriver“ für die Theater Jena aufgenommen und „Morgenland“ vom Staatsschauspiel Dresden, ein Stück, in dem die Bürgerinnen und Bürger miteinander ins Gespräch kommen. All diese Stücke stellen die Fragen: Was kann Theater, was kann Kunst bewirken im politischen Diskurs? Wie können Diskussionen in der Gesellschaft ausgelöst und begleitet werden?
Beginnen wird das Theaterfestival „Unentdeckte Nachbarn“ am 1. November mit dem Stück „Lücke“ im Schauspielhaus Chemnitz. „Dieses Stück wirkt auch therapeutisch “ erzählt Knoppe. Der Regisseur habe die Menschen befragt, die den Anschlag in Köln in der Keupstraße miterlebt haben und auch die heutige Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner eingefangen. „Wir laden Stücke ein, die die Aufarbeitung für die Opfer in den Fokus genommen haben. In „Urteile“ zeigt Christine Umpfenbach, wie die Polizeiarbeit nach den Morden verlaufen ist“, fügt er gleich das zweite Beispiel an. „Sie hat mit Opfern aus München gesprochen. Solche Theaterarbeit gehört mit in unser Programm.“ Das Thema des Theatertreffens passt in eine politisch aufgeladene Zeit, dessen ist sich Knoppe bewusst. Der gebürtige Berliner ist vor zwei Jahren von Zwickau nach Chemnitz gezogen und anstatt das Thema auszublenden, hat er den Scheinwerfer angeschaltet und hofft, dass die Kunst etwas bewegt. „Das, was in Sachsen gerade so schief läuft, das laute Schweigen und jeder igelt sich ein oder das Anschreien am 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit – das geht auch anders.“
Warum sind die NSU-Morde für Theater ein interessantes Thema?
Theater kann abstrakte Dinge emotional sichtbar machen. „Unentdeckte Nachbarn“ hat für mich zwei Seiten: Auf der einen Seite gibt es die neonazistischen Strukturen, die unentdeckt waren und die bis heute nicht vollständig aufgeklärt sind. Oft wird verharmlosend von Zelle gesprochen. Aber ist es nicht vielmehr ein Netzwerk, im dem wahnsinnig viele Leute beteiligt sind? Die Unterstützer der NSU-Szene sind noch weiterhin aktiv. Die andere Seite ist die Perspektive der Migranten. Es sind nicht nur die Opferfamilien betroffen, sondern Millionen von Menschen, die sehen, dass der Staat nicht daran interessiert ist, ihr Recht auf Leben zu schützen. Die sehen die NSU-Morde als Staatsversagen und ziehen sich im schlimmsten Fall aus dem demokratischen Prozess zurück. Diese Perspektive wird hier in Sachsen kaum wahrgenommen. Das wollen wir sichtbar machen. Es geht um die Grundwerte der demokratischen Gesellschaft.
Ein Theater mit Zeigefinger? Wen wollt ihr erreichen?
Wir wollen auf jeden Fall Menschen erreichen, die sich für Kunst interessieren. Wir haben auch Schulen eingebunden. Belehrend sind die Stücke nicht. Aber ich hoffe, sie werden vor allem überraschend in ihrer Perspektive. Es wird kein Gute-Laune-Theater, dafür ist das Thema zu brisant. Aber auch andere Städte zeigen, dass man sich mit gesellschaftlichen Problemen aktiv auseinandersetzen kann. Zu diesen Stücken sind in anderen Städten die Theater auch immer voll.
Wir wollen, dass die Institutionen mitmachen und daraus lernen, welche wichtige Rolle sie in dem gesellschaftlichen Diskurs einnehmen. Das kann nicht eine kleine zivilgesellschaftliche Initiative leisten. Das können die großen Player, wie Theater, Hochschulen, Museen.
Neben den Theateraufführungen gibt es auch ein Rahmenprogramm mit Podiumsdiskussionen, Ausstellungen und Installationen. In einer Audioinstallation auf dem Chemnitzer Johannisplatz können Besucherinnen und Besucher Texte in extra aufgestellten Telefonzellen einsprechen, die später abgespielt werden. Und es gibt zahlreiche Gesprächsangebote vom klassischen Vortrag bis zum poetry slam.
Vor wenigen Tagen wurde ein mutmaßlicher IS-Terrorist in Chemnitz entdeckt, der wahrscheinlich ein Sprengstoff-Attentat vorbereiten wollte. Habt ihr das unter dem Titel „Unentdeckte Nachbarn“ diskutiert?
Es gibt durchaus Parallelen, aber natürlich auch große Unterschiede. In den Formen der Gewalt und in den Angstsituationen, die ausgelöst werden, gibt es Ähnlichkeiten. Aber jede Form von Extremismus hat seine eigene Komplexität, das wollen wir nicht vermischen, sondern den Fokus auf die besondere Bedeutung von Rechtsextremismus legen. Vielmehr geht es darum, die Gesellschaft zu ermutigen, Zeichen zu sehen. Dass im Keller des NSU-Trio ein Adolf-Hitler-Bild hing, fanden die Nachbarn normal. Gesellschaft braucht aktive Bürger und Bürgerinnen, die sich für unsere Grundwerte einsetzen.
Wie hast du in Chemnitz an dem Theaterprojekt gearbeitet?
Wir haben 2013 eine Kunstaktion in Zwickau durchführt. Dort, wo das NSU-Trio lebte, wurde das Haus abgerissen und es ist dort nur noch große Grasfläche zu sehen. Wir haben zum Prozessbeginn dort einen symbolischen Spatenstich gemacht. Und dieses Stück haben wir der Oberbürgermeisterin übergeben. Schon damals hat uns die Presse begleitet. Das war das erste Signal von uns, wie man politischen Diskurs über Kunst aktivieren kann. Wir haben noch drei weitere Aktionen gemacht. Zum Beispiel haben wir den Preis „Goldener Hase“ an den Verfassungsschutz übergeben mit dem Motto „Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts“. Die Preisverleihung haben wir direkt vor seiner Haustür gemacht.
Aus diesen Aktionen ist ein Theatertreffen erwachsen?
Es ging mit einem Theaterstück los, das wir nun machen und das die NSU-Unterstützerstrukturen thematisieren wird. „Beate Uwe Uwe Selfie Klick“wird am 2. November als im Figurentheater uraufgeführt. Wir haben dann Stiftungen und Partner gefragt, ob sie uns unterstützen, ein großes Theatertreffen daraus zu machen. Und das hat große Zustimmung gefunden.
Gab es keine Bedenken?
So ein Projekt kann man nicht geräuschlos vorantreiben. Aber die Institutionen waren trotzdem sehr schnell mit dabei und haben uns unterstützt. Es gibt schon Stimmen, die sagen: Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen, man könne erst darüber reden, wenn es das Gerichtsurteil gibt. Aber es gibt fertige Bundestagesuntersuchungsausschüsse. Und Kunst darf auch den Prozess darstellen und begleiten. Ich war überrascht, wie viele Leute an dem Projekt interessiert sind und mitmachen. Wir konnten ein schlummerndes Potenzial wecken. Das finde ich total gut. Es gibt ganz viele, die sich gegen Rechtsextremismus positionieren.
Nach zwei Jahren Chemnitz, was hast du für ein Bild von der Stadt?
In Chemnitz kann man noch was machen. Es ist nicht zu klein. Mir ist die Stadt sympathisch. Hier gibt es eine sehr offene Szene. Wir wurden gleich freudig aufgenommen. Man geht auch nicht unter, wie das vielleicht in Berlin oder Leipzig wäre. Ich habe das Gefühl, dass es gemocht wird, wenn man sich einbringt. Es gibt ja auch noch wahnsinnig viel zu tun.
Muss man den Chemnitzern Mut machen?
Ja, man darf es auf jeden Fall. Es gibt hier tolle Institutionen, wie das Theater oder das Staatliche Archäologiemuseum. Da kann man viel daraus machen. Wenn man will, dass städtische Diskurse irgendwo stattfinden, dann müssen sich die Institutionen bewegen und es braucht eine aktive Stadtgesellschaft, die zeigt, dass sie mitreden wollen. Beide müssen wissen, dass sie etwas voneinander wollen.