Viele Stadtgeschichten statt einer Stadtgeschichte
Prof. Dr. Christoph Fasbender
Macher der Woche vom 29. Dezember 2017
Chemnitz feiert im nächsten Jahr 875 Jahre Stadtgeschichte. Im Vorfeld waren Vereine, Institutionen und Privatpersonen aufgerufen, sich mit ihren Projekten am Jubiläum zu beteiligen. Mit einem der Initiatoren, Prof. Dr. Christoph Fasbender, seit 2009 Professor für Deutsche Literatur- und Sprachgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der TU Chemnitz, sprachen wir zu den Vorbereitungen und Erwartungen an das Jubiläumsjahr 2018.
Sie haben den Anstoß dafür gegeben, das Stadtjubiläum anders als üblich zu begehen - mit viel Beteiligung, kleinteilig und dezentral. Wieso hatten Sie diese Idee?
Prof. Dr. Christoph Fasbender: Mir ging es um die Frage, wie wir die Chemnitzer Geschichte wahrnehmen. Wer Menschen in Chemnitz nach der Identität und der Geschichte der Stadt fragt, merkt schnell, dass sie von ganz unterschiedlichen Epochen und vielen Brüchen geprägt ist. Oft wissen die Menschen gar nicht, zu welcher Geschichte sie stehen sollen, weil es offensichtlich zu wenige Bezüge zur Gegenwart gibt. Ich wollte die Chemnitzerinnen und Chemnitzer anregen, über ihre eigene Geschichte nachzudenken und sich zu positionieren. Was ist den Menschen an der Geschichte der Stadt wichtig? Das ist doch eine spannende Frage.
Wenn das Stadtjubiläum von den klassischen Akteuren vorbereitet wird, dann gibt es vielleicht die eine Stadtgeschichte. Ich wollte aber viele verschiedene Geschichten hören. Das ist ein großer Flickenteppich an Meinungen und Wahrnehmungen und kein einzelnes Narrativ, was man nacherzählen kann. Sondern es wird viele Varianten von Stadtgeschichte und Stadtgeschichten geben.
Ist dieser Ansatz von ihrer wissenschaftlichen Arbeit geprägt?
Ich habe als Professor schon mit der frühen Chemnitzer Geschichte zu tun, das ist richtig. Dieses Gebiet ist aber recht urkundenschwach. Und die wenigen Urkunden, die es gibt, sind im Wesentlichen unbekannt. Spannender wird es ab dem 16. Jahrhundert, als sich der Protestantismus ausgebreitet hat und mit der katholischen Stadtgemeinschaft gemeinsame Wege ging. Aber das ist dann nur noch bedingt mein Themengebiet.
Es ist eher ein persönliches Motiv. Ich bin freiwillig in diese Stadt gekommen und fühle mich mit verantwortlich für sie. Ich habe die rasanten Entwicklungsprozesse dieser Stadt miterlebt und hatte das Gefühl, ich will auch etwas dazu beitragen. Ich wollte die Stadt als Labor verwenden und die Chemnitzerinnen und Chemnitzer sagen lassen, was ihr Bild vom Ganzen ist.
In Chemnitz ist unglaublich viel Bewegung und Aktivität, aber es wird sich auch teilweise beschwert, dass es viele Begrenzungen gibt. Ich wollte den Menschen ein Jahr lang Freiraum geben, damit sie unbequem sein und Themen ansprechen dürfen, die vorher nicht so präsent waren.
Sind Sie mit der Resonanz der Idee zufrieden?
Wir reden nicht von Hochglanzprodukten. Die meisten, die sich hier beteiligen, haben vorher ganz selten etwas öffentlich präsentiert. Das ist aber auch das Aufregende daran. Die Menschen erobern sich die Stadt über das Thema Stadtgeschichte. Ich fand es spannend zu beobachten, wie sich Akteure miteinander vernetzen. Beispielsweise wenn ich höre, wie die Studierenden mit den Brautmodegeschäften Kontakt aufnehmen, um etwas zum Thema Liebe vorzubereiten. Auch das Ballett, die Galerien der Stadt oder der öffentliche Nahverkehr werden angesprochen und machen mit. Über das Thema Stadtgeschichte kommen die verschiedenen Akteure zusammen. Im Einzelnen kann ich das schon gar nicht mehr überblicken. Aber ich merke, dass junge Studierende mit alten Hasen zusammenarbeiten und Projekte entstehen, die so nie geplant waren. Dieser Prozess des Kennenlernens und die Verständigung darüber, wer man ist und wie man ist, das wird die Stadt auch künftig prägen.
Ist es denn so einfach mitzumachen?
Ich merke, dass im Moment die Lust bei vielen groß ist, noch mit einzusteigen und die sagen: Ja, das wollen wir auch. Es war mir selbst ein Anliegen, die Universität in der Stadt noch sichtbarer zu machen. Wir haben versucht, diese Sichtbarkeit in den letzten Jahren zu erhöhen. Und nicht nur Professoren, sondern vor allem die jungen Studierenden wollten wir begeistern.
Was wird bleiben vom Jubiläumsjahr?
Manchmal hört man, dass nach einer Klassenfahrt oder Ähnlichem sich große Freundschaften gebildet haben. Ich würde mir sehr wünschen, dass sich aus dieser außerordentlichen Beziehungsarbeit, die auf eigenen Entschluss entstanden ist, eine dauerhafte Zusammenarbeit entwickelt. Das wäre das Schönste, was passieren könnte.
Sie führen auch selbst ein Projekt durch. Worum geht es?
Ich habe vor längerer Zeit ein altes Schriftstück aus dem 18. Jahrhundert gefunden. Es ist eine interessante Abhandlung über „Mancherlei Arten des Küssens“, die hier in Chemnitz geschrieben und gedruckt worden ist. Vom 18. Jahrhundert gibt es ja nur wenige Zeugnisse in der Stadt. Kaum jemand weiß, dass es damals in Chemnitz einen Verlag, diesen Autor und erst recht sein Werk über das Küssen gab. Wir wollen dieses Buch der Stadt wiedergeben, teilweise redigieren und in einer lesbaren Form mit Performances und künstlerischen Darbietungen am Tag des Kusses, am 6. Juli 2018, vorstellen.
Wie haben sich die Studierende von dem Stadtjubiläum begeistern lassen?
Wenn wir davon wegkommen, Stadtgeschichte als eine politische Geschichte, eine Abfolge von Daten zu begreifen, dann kommen wir dem Kern der Sache viel näher. Wir können uns klarmachen, dass es tausende Stadtgeschichten gibt. Eine Geschichte der Musik, der Malerei, des Handwerks, der Literatur, der Frauen, der Kindheit, des Fremdseins, der Armut, der Währung – Chemnitz hat all diese speziellen Geschichten. Und die Studierenden lassen sich gut bei ihren Interessen abholen und haben sich anregen lassen, mit Gleichgesinnten in der Stadt etwas zusammen auf die Beine zu stellen.
Das Stadtjubiläum soll den Weg für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas 2025 ebnen? Wie soll das gelingen?
Es passiert unglaublich viel in dieser Stadt. In den vergangenen drei, vier Jahren habe ich viel Aufbruch und Dynamik erlebt und den politischen Willen gesehen, die Stadtgesellschaft zur Partizipation zu animieren. Als ich das Konzept zu 875 Jahre Chemnitz das erste Mal vorgestellt habe, sprach noch niemand über die Kulturhauptstadtbewerbung. Und doch greifen die Dinge jetzt schon ineinander. Ich halte es für wichtig, die Chemnitzerinnen und Chemnitzer daran zu erinnern, dass sie Teil der Stadt sind. Das sollten sie nicht nur spüren, indem sie Strafzettel bezahlen, weil sie falsch geparkt haben oder sich beschweren dürfen, weil etwas gesperrt ist oder nicht läuft. Ich bin der festen Überzeugung, dass in Chemnitz ganz viel Bereitschaft zur Mitgestaltung steckt. Auch die Politik hat diesen partizipativen Ansatz verstanden und trägt ihn, wie wir sehen, konsequent mit.
Wie soll die Stadt bis 2025 aussehen?
Die Stadt braucht eine auf Verständigung und Interaktion aufbauende Stadtgesellschaft. Die städtischen Häuser profitieren davon, wenn sie sich weiter öffnen, wenn sie sich nicht als Verwalter der Geschichte, sondern als Gestalter der Gegenwart und der Zukunft begreifen. Das sehe ich bereits an vielen Stellen. Die Offenheit der kulturellen Einrichtungen bekommt noch einmal eine ganz neue Qualität.
Warum sollte sich Chemnitz mit seiner Geschichte über das Jubiläumsjahr hinaus auseinandersetzen?
Chemnitz hat kein einfaches Verhältnis zu seiner Geschichte. Es hat mindestens drei bis vier, sehr einschneidende Umbrüche erlebt: die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Auflösung des intellektuellen Bürgertums, die Einführung des Sozialismus und dessen Ende. All dies sind schwerwiegende Einschnitte gewesen, die der Stadt ein ganzes Jahrhundert genommen haben und wo bis heute unklar ist, wie sie dazu eigentlich stehen soll. Ich wünsche mir also schon ein neues Verhältnis zu unserer Geschichte. Wir haben keinen wirklichen Anker in unserer Geschichtserzählung und wenig sichtbare Zeitzeugen, an denen wir anknüpfen können. Auch deswegen muss man Chemnitzer Stadtgeschichte vollkommen anders schreiben und denken.