In dieser Stadt soll Frieden herrschen

Justin Sonder

Macher der Woche vom 21. April 2017

Schon oft hat er seine Lebensgeschichte erzählt. Seit 30 Jahren geht Justin Sonder in Schulen und berichtet von den schlimmsten Tagen seines Lebens im KZ Auschwitz. Als einer der wenigen Auschwitz-Überlebenden kämpft er gegen das Vergessen. Zwei Bücher dokumentieren seine Erlebnisse. 2008 erhielt er den Ehrenpreis des Chemnitzer Friedenspreises. Und in den letzten Tagen nahmen viele Journalisten und Reporter auf seinem gelben Sofa Platz und hörten seinen lebendigen Worten zu. Heute verleiht ihm die Stadt Chemnitz die Ehrenbürgerschaft.


In Ihrem hohen Alter gehen Sie in Schulen und erzählen den Schülerinnen und Schülern von Ihrem Leben. Wie reagieren die Jugendlichen auf Ihre Geschichten?
Justin Sonder:
Sie sind aufmerksam. Stellen viele Fragen. Aber natürlich können sie sich schwer vorstellen, wie schlimm es tatsächlich war.

Was interessiert die Jugendlichen?
Es sind unterschiedliche Fragen. Mit aktuellen Bezügen. Ob ich Freunde hatte im KZ. Wie ich das alles überlebt habe. Ob ich Gedanken zur Flucht hatte.

Ab wann haben Sie erkannt, dass der Nationalsozialismus gefährlich war?
Das war 1936. Die olympischen Spiele standen vor der Tür. Und die Schulen haben Wettbewerbe veranstaltet. Ich war ein guter Sportler und kam in die Fußballmannschaft. Unsere Mannschaft lag 3:0 zurück. Ich habe alle Kraft zusammengenommen und alles gegeben. Es stand schließlich 4:1 – für die anderen. Der zweifache Torschütze der anderen Mannschaft wurde bejubelt. Aber auch bei uns verflog schnell die Enttäuschung. „Wir haben auch einen Torschützen“, riefen Jungs aus unserer Mannschaft und hoben mich auf die Schultern. Das passte dem Schulleiter, einem überzeugten Nazi, überhaupt nicht. Er hat nicht nur mich, sondern die ganze Klasse beschimpft und niedergemacht, das kann ich gar nicht erzählen. Das war mein erstes Erlebnis, in dem ich den Antisemitismus direkt gespürt habe.

Haben Sie das selbst verstanden, warum Sie ausgegrenzt wurden?
Nein. Und das war am Anfang auch nicht so offensichtlich. Zwei Jungs gingen nach der vierten Klassen an eine erweiterte Schule. Ich war auch ein guter Schüler und wollte das auch. Ich durfte nicht. Meine Mutter sagte: Wir haben kein Geld. Das stimmte auch. Aber der eigentliche Grund wurde verschwiegen.

Justin Sonder wurde am 18. Oktober 1925 in Chemnitz geboren. Im Silbersaal in Bernsdorf ging er in den Kindergarten. Eingeschult wurde er in der Bernsdorfer Schule. Später besuchte er die Waisenschule. „Als Schulkind habe ich in der damaligen Grenadierstraße, heute Rosa-Luxemburg-Straße erlebt, wie die Nazis Wohnungen von den bekannten Kommunisten Sindermann und Janka durchsucht haben. Auch mein Vater war ein Mann der SPD. Deshalb haben sie auch unsere Wohnung durchsucht, aber nichts gefunden“, erzählt der heute 91-Jährige. „Wo sie etwas gefunden haben, haben sie die Menschen mitgenommen in ein altes Hotel, Hansa-Haus hieß es, und haben die Männer krankenhausreif geschlagen, oder in das nahegelegene provisorisch errichtete Konzentrationslager Sachsenburg gebracht.“

Bei der Pogromnacht am 9. November 1938 wurde der Hass offensichtlich. Wie haben Sie das erlebt?
Wir wohnten damals in der Lindenstraße, nicht weit entfernt vom Kaufhaus Schocken. In dieser Nacht vom 9. auf den 10. November war ein fürchterlicher Radau auf den Straßen. Ich wachte davon auf und öffnete das Fenster. Die großen Schaufensterscheiben waren eingeschlagen, zerborsten. Ich sah wild umherlaufende SS-Leute und SA-Leute. Mein Vater ging auf die Straße und sagte: „In Chemnitz in der Teufel los.“ Er erzählte, dass die jüdischen Kaufhäuser Tietz und Schocken zerstört, viele jüdische Geschäfte verwüstet waren und die Synagoge auf dem Kaßberg brannte. Wir waren geschockt. Mein Vater hat die Stadt verlassen, sich bei Freunden in der Sächsischen Schweiz versteckt und kam auch erst nach Weihnachten wieder. Wir haben der Gestapo, die ihn suchte, erzählt, er sei zu seinem kranken Vater nach Franken gefahren.
Danach begann die Ghettoisierung. Wir flogen aus unserer Wohnung und wurden in einem sogenannten Judenhaus angesiedelt. Unseres befand sich auf der Zschopauer Straße. Davon soll es etwa 20 solcher Häuser gegeben haben. Nur ein Zimmer für die ganze Familie. Die Gestapo führte Hausdurchsuchungen durch, wann sie wollte. Im Mai 1942 wurden meine Eltern abgeholt und ins Konzentrationslager gebracht. Von da an war ich auf mich selbst gestellt. Ich habe zusammen mit einem fast gleichaltrigen Jungen in einem Zimmer gehaust. Es gab auch keine Marken für Fleisch und Butter mehr. Meine Mutter sagte mir zum Abschied, ich soll in die Geschäfte gehen, in denen sie Stammkundin war. Und tatsächlich habe ich beim Fleischer und Molkereibesitzer ab und an etwas zugesteckt bekommen, wenn es kein anderer sah.

Im Februar 1943 wurde Justin Sonder verhaftet und ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Er hat an drei Prozessen teilgenommen, die die Verbrechen der SS in den Konzentrationslagern aufklären sollten. Eine Richterin habe ihm bei dem letzten Prozess in Detmold gefragt: „Können Sie beschreiben, was eine Selektion ist?“ Seine Antwort, sagt er, weiß er noch genau und kämpft mit sich, ob er weiterreden soll: „Ich habe 17 Selektionen überlebt und ich bin der deutschen Sprache nicht mächtig genug, um das darzustellen.“ Selbstverständlich ist es nicht, dass er über seine Erinnerungen sprechen kann. Denn lange Zeit nach der Rückkehr verlor er kein Wort über seine Erlebnisse. Manchmal ringt er auch heute noch mit den Worten. Dann aber sprudelt es aus ihm heraus. Bildhaft beschreibt er Details, zählt Namen und Orte auf.
„Die Selektionen waren das schlimmste“, stellt er heraus und versucht sich die schwere Frage selbst zu beantworten. „In den frühen Morgenstunden schrie ein SS-Mann ein Wort in die Barracken „Selektion“. Das war der Befehl, sich auszuziehen und nackt zu warten. Mindestens 30 Minuten – bis zu vier Stunden. Die Gedanken: Komme ich noch einmal davon. Darf ich noch weiter Arbeitssklave bleiben? Die SS kam herein und der Häftling musste vorbei defilieren. Wenn der Gang schleppend war und die ganze Haltung die eines Kranken, verspotteten die SS-Leute diese Häftlinge als „Muselmänner“. Der SS-Arzt entschied in diesem Moment über Leben und Tod.“ Justin Sonder zeigt mit dem Daumen nach unten und schweigt.


Sie haben im KZ zwangsgearbeitet. Was genau haben Sie gemacht?
Leichte Arbeit gab es keine. Das Lager, in dem ich war, Auschwitz III, war noch im Aufbau begriffen. Mit mehr als 10.000 Arbeitssklaven. Es sollte ein großes Chemiekombinat der IG Farben, die Buna-Werke, entstehen. Eine Arbeit, an die ich mich noch erinnern kann, war: Zementsäcke tragen. 50 bis 60 Meter vom Wagon zur Lagerhalle. Das ist für einen 17-jährigen Jungen, wie ich einer war, bei guter Ernährung machbar. Aber wir hatten eine Mangelernährung und diese Arbeit war eine Tortur. Und dann kamen Schikanen dazu – die SS rief: im Dauerlauf. Die Häftlinge fielen hin, wurden geschlagen. Es war furchtbar. Auschwitz brauchte auch keine Lokomotive. Häftlinge haben die Güterwagen geschoben und gebremst.

Woher haben Sie die Kraft genommen, die vielen Selektionen und die schwere Zeit zu überstehen?
Ich habe von meinen Eltern nichts geerbt, nur eines: sowohl meine Mutter als auch mein Vater hatten einen unwahrscheinlich eisernen Willen.

Wie wurden Sie befreit?
Ich bin in einem kleinen Dorf in Bayern zwischen Cham und Roding von den Amerikanern befreit worden. Die Nazis hatten uns auf diesen riesigen Todesmarsch geschickt. Nur 40 Häftlinge wurden befreit, darunter ich. Alle anderen sind auf dem Todesmarsch erschossen oder erschlagen worden. Schlimm.
Von den 40 Häftlingen kannte ich zwei, die mit mir in Auschwitz waren. Einer davon bot mir an, mit nach Paris zu kommen. Er fragte: „Wieso willst du hier bleiben? Hier haben die Verbrechen begonnen. Hier leben die Mörder, die uns das Schlimmste angetan haben. Geh mit mir nach Paris.“ Meine Antwort war: „Ich geh nicht mit nach Paris. Trotz allem was geschehen ist. Ich gehe in meine Heimatstadt Chemnitz.“ Das Schicksal war mir gnädig: Ich lief los und traf meinen Vater in der Gegend um Hof. Er war im KZ Dachau befreit worden. Zusammen kamen wir am 19. Juni 1945 wieder in Chemnitz an.

Mit welchen Gefühlen sind Sie nach Chemnitz zurückgekehrt?
Ich war total traurig. Wie es hier aussah. Es war eine sterbenskranke Stadt zurückgeblieben. Wo ich einst in friedlichen Tagen mit meinen Eltern gewohnt hatte, war die blanke Verwüstung.

Wie haben Sie wieder ins Leben zurückgefunden?
Ich habe mich anderen jungen Menschen in meinem Alter angeschlossen. Wir waren ausgerüstet mit Spaten und Hacke. In einem Ruinengrundstück in der Brückenstraße, jenseits der Straße der Nationen haben wir einen ersten Arbeitseinsatz organisiert. Die Resonanz war riesig. „Chemnitz baut auf“, hieß es. Es wurde eine Trümmerbahn in den Süden der Stadt aufgebaut. Mit dieser Arbeit wurde die Lähmung überwunden.

Sie haben in Chemnitz auch wieder ihr persönliches Glück gefunden.
Das stimmt. Ich habe meine Frau kennengelernt. Sie hat im Rathaus gearbeitet und war verantwortlich für die Ausstattung und das Personal in den Kindergärten. Ich selbst wurde Kriminalist. Wir haben geheiratet. Drei Kinder sind in Chemnitz geboren. Vier von unseren sechs Enkeln sind auch in Chemnitz geboren. Und einmal im Jahr trifft sich die ganze Großfamilie hier in Chemnitz.

Sind die jungen Menschen fit genug, um aus der Geschichte zu lernen?
Im Großen und Ganzen ja. Deutschland ist ein tolles Land. Hier kann man sich wohlfühlen. Hier kann man arbeiten. Es gibt viele Gründe, hier sein Glück zu finden. Ich sage den jungen Menschen in den Schulklassen, sie sollen nicht auf die Populisten und die schrillen Töne hören. Die Sprache ist verräterisch. Niemand, der heute in die Schule geht und die Geschichte des Landes versucht zu verstehen, ist schuld daran, was geschehen ist. Aber natürlich sollen sie daraus lernen und alles dafür tun, dass sich so etwas nicht wiederholt. Und bewusst sollte man sich sein, dass jeder Krieg mit den Waffen beginnt, mit denen der alte aufgehört hat. Der Abwurf der Atombombe hat gezeigt, wozu die Menschheit fähig ist. Wir haben alles dafür zu tun, den Frieden zu wahren.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Für Chemnitz wünsche ich mir: In dieser Stadt soll Frieden herrschen. Hier ist kein Platz für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus. Ihr rufe ich zu: Chemnitz, du sollst blühen und gedeihen.

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