Hauptstadt der Mathematik

Dr. Norman Bitterlich

Macher der Woche vom 8. März 2019

Vom 12. bis 15. Mai treffen sich die besten Mathematikschüler aus ganz Deutschland in Chemnitz zur Bundesrunde der 58. Mathematik-Olympiade (BMO). Die Veranstaltung wird seit zwei Jahren durch ein Organisationsteam aus Vertretern der TU Chemnitz, der Stadt, des Johannes-Kepler-Gymnasiums sowie des Landesamtes für Schule und Bildung vorbereitet. Für Dr. Norman Bitterlich, dem Koordinator im Organisationsteam, stehen nach aufregenden Wochen ereignisreiche Tage bevor. 


Wie wird man denn Gastgeber des Bundesfinales der Mathematikolympiade?
Dr. Norman Bitterlich: Indem man Interesse bekundet. Seit 1996 sind alle Bundesländer bei der Mathe-Olympiade dabei. Es möchte jeder einmal Ausrichter sein bzw. soll es auch. Zweimal war der Endausscheid in Sachsen: 1995 in Freiberg und 2008 in Dresden. Wir haben uns 2016 nach vorn gewagt und Chemnitz ins Gespräch gebracht. Denn, die Stadt ist gut, anerkannt in der Begabtenförderung und das möchten wir auch zeigen. 2019 war der nächste freie Platz im Plan. Da haben wir zugeschlagen.

Seit Schuljahresbeginn läuft die 58. Mathematik-Olympiade. An der 1. Runde, der Schulolympiade, haben ca. 200.000 Mädchen und Jungen teilgenommen. In einem strengen Qualifikationsverfahren über die Regionalausscheide (2. Runde) und Länderwettbewerbe (3. Runde) werden die erfolgreichsten 200 Jugendlichen der Klassenstufen 8 bis 12/13 feststehen, die dann im Mai in der finalen 4. Runde in Chemnitz aufeinander treffen. Die Bundesrunde wird finanziell durch das Sächsische Kultusministerium, die Stadt Chemnitz und die Hector Stiftung II gefördert. Einheimische Institutionen und Unternehmen tragen ebenfalls zum Gelingen der Veranstaltung bei. Die Schirmherrschaft Ministerpräsident Michael Kretschmer übernommen.

Was erwartet die Teilnehmer, wenn sie nach Chemnitz kommen?
In erster Linie erwarten sie natürlich zwei Vormittage voller Klausuren. Das ist das Kernstück, deshalb kommen sie nach Chemnitz. Als Gastgeberstadt möchten wir den Teilnehmenden Chemnitz präsentieren und einiges zeigen.
Am Montag- und Dienstagnachmittag werden sie durch Chemnitz geführt. Unter dem Motto Wissenschaft und Wirtschaft haben sich Unternehmen bereit erklärt, Gruppen zu empfangen und ihnen ihr Unternehmen zu zeigen. Zudem werden wir an der Technischen Universität präsent sein. Das Wunderland Physik muss man gesehen haben, wenn man in Chemnitz ist. Der Dienstag ist dann für die Kultur- und Museenlandschaft vorgesehen. Wir bieten vom Gunzenhauser bis zum Spielemuseum alles an. Sie lernen Dinge kennen, die prägnant für Chemnitz sind, wie z.B. das Industriemuseum. Abends sind wir im Stadion. Das nennen wir „Begegnungsabend“. Wir wollen die Teilnehmer und Gäste mit Chemnitzern zusammenbringen, damit sie sich untereinander und die Stadt besser kennenlernen. Am Mittwochvormittag werden an der Technischen Universität dann die Sieger gekürt.

Die Sieger müssen nicht nur rechnen können, sondern eine Leidenschaft für knifflige Aufgabenstellungen haben. Beispielsweise wurde im vergangenen Jahr in der Klassenstufe 8 folgende Aufgabe gestellt: In den Sommerferien will Jonas Kajak fahren. Er weiß, dass er in strömungsfreien Gewässern in einer Stunde eine Strecke von 6 km paddelt. Für eine Flusstour leiht er sich für 4 Stunden ein Boot aus. Er möchte zuerst flussabwärts und dann wieder zurück fahren und dabei die Ausleihzeit vollständig ausnutzen. Er fragt nach der Strömungsgeschwindigkeit des Flusses. Sie ist 1,5 km/h. Berechne die Gesamtstreckenlänge, die er so mit dem Kajak fahren würde. (Die Zeiten zum Beschleunigen und Umdrehen werden vernachlässigt.) Lösung: Jonas würde 22,5 km fahren. „Das Schöne an der Mathe-Olympiade ist aber, dass es nicht nur einen Sieger gibt. 40 Prozent der Teilnehmer erhalten einen Preis. Es gibt mehrere zweite und noch mehr dritte Preise. Man würdigt hier die Leistung stärker individuell als gegeneinander. Man ist nicht so sehr Konkurrent in dem Sinne, wie man es bei Sport kennt. Das ist schon etwas Tolles“, beschreibt Dr. Norman Bitterlich das Besondere an dem Wettbewerb.

Der normale Mathematik-Unterricht reicht also nicht aus, um da erfolgreich zu sein?
Nein. Der reicht wohl nicht. Neben dem Zeitdruck kommen dann noch die individuellen Fertigkeiten, eine Lösung so vollständig aufzuschreiben, dass man es niemanden erklären muss, dazu. Der Korrektor muss die Schritte nachvollziehen können und darf keine Lücken in den Gedankengängen entdecken.
Für die Aufgabenstellungen benötigt man sowohl Fertigkeiten im mathematischen Bereich als auch Pfiffigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und Lösungen zu konstruieren. Das geht über den Schulstoff hinaus. Man hat auch Aufgaben, die machen die Schüler nie gerne. Beispielsweise räumliche Geometrie. Man hat einen Würfel, nimmt eine Ebene und schneidet mit ihr den Würfel. Was entstehen dann für Schnittflächen? So eine einfache Aufgabe bringen sie natürlich, aber das ist schon sehr an die Anschauung gebunden. Den normalen Schülern fehlt dann meist diese Anschauung. Hier sind es schon Leute, die das geübt haben, die das richtig trainieren, damit man das in dieser Form bringt.

Stichwort Lehrermangel: Sie beschäftigen sich mit Hochbegabten. Blicken Sie besorgt auf das Problem des Lehrermangels?
Das ist ein großes Problem. Das merken wir auch, wo noch ausgebildete Lehrer arbeiten, die sich auch Zeit nehmen können und sich mit den Schülern über den Unterricht hinaus beschäftigen. Schüler brauchen manchmal nur einen Ansprechpartner, um zu sagen, ich hab da etwas angefangen, komme nicht weiter. Das ist eben nicht mehr an allen Schulen möglich. Leider.

Norman Bitterlich engagierte sich im Bezirkskomitee Chemnitz und im Sächsischen Landeskomitee zur Förderung mathematisch-naturwissenschaftlich begabter und interessierter Schüler. Er hat unter anderem vor 20 Jahren die Sächsische Physikolympiade mit ins Leben gerufen und den Adam-Ries-Wettbewerb nach seiner Neuausrichtung 1992 über 25 Jahre geprägt, der als eine Landesolympiade für Mathematik für Fünftklässler jährlich ca. 1.500 Schüler erreicht und länderübergreifend in Thüringen, Bayern und auch der Tschechischen Republik wirkt. Als Nachfahre von Adam Ries in der 14. Generation vermittelt der 62-Jährige anschaulich Mathematik und erreicht damit alle Altersklassen, von Vorschulkindern bis zu Senioren. Er gibt seine Erfahrung aus der Begabtenförderung über das Bezirkskomitee an die Lehrerschaft weiter. Außerdem fördert Dr. Norman Bitterlich ca. 60 mathematisch interessierte Schüler der Klassenstufen 9 und 10 im Rahmen eines Korrespondenzzirkels. „Das mache ich als Hobby zu Hause. Wie andere Fußball gucken, schaue ich mir die Arbeiten der Schüler an.“ Für sein Engagement in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Begabtenförderung wurde er 2013 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Woher kommt Ihre Liebe für Zahlen und Naturwissenschaften, wenn Sie die Arbeit mit Jugendlichen nicht als Beruf machen?
Ich bin Mathematiker, habe das studiert und zu Schulzeiten auch an Mathematik-Olympiaden teilgenommen. Da kam schon die Liebe zu diesem Wettbewerb, zur Mathematik. Ich hab das dann bis zum letzten Schuljahr als Schüler mitgemacht, war auch einmal in der vierten Runde. Insofern ist die Liebe zum Rechnen, zum Beweisen, zum Knobeln und zum Hinterfragen schon ganz tief in mir verwurzelt. Ich studierte Mathematik in Jena, bin aber hier aus der Region und deshalb nach dem Studium und meiner Promotion wieder zurückgekommen. Hier konnte ich mich dann ab 1986 in die Begabtenförderung eingebringen. Ich habe an der Hans-Beimler-Schule, dem Vorgänger des Johannes-Kepler-Gymnasiums mit wahlobligatorischem Unterricht, Mathematik, angefangen. Und das als ungelernter Lehrer.

Eine Art AG?
Ja, so eine Art AG. Das nannte sich aber richtig Unterricht in dieser Spezialisierungsrichtung.

Was machen Sie, wenn Sie keine Mathematik-Olympiade organisieren?
Ich bin Statistiker in einem Serviceunternehmen für die Medizin in Rabenstein. Ich werte Studien aus. Das sind nicht die großen internationalen Studien, aber es ist ein hoher Bedarf Datensammlungen auszuwerten. Das machen wir als Dienstleister für die Pharmazie, für Hersteller von Nahrungsergänzungsmittel usw.

Sie wollen Chemnitz während der Mathe-Olympiade als erfolgreichen Wissens- und Wirtschaftsstandort präsentieren. Was finden Sie selbst besonders herausragend?
Dass wir natürlich viele Industrieunternehmen hatten und noch haben. Sie haben ganz stark mit mathematischen Grundfertigkeiten zu tun und sind sehr offen. Ich gehe beispielsweise mit Schülern in Unternehmen und veranstalte dort Seminare oder dergleichen, damit wir nah an der Praxis sind und zeigen, wie hoch der mathematische Bedarf ist. Ich finde es schon toll, dass man sich als Mathematiker in Chemnitz wiederfindet.

Einen Tag nach der BMO findet der Bundeswettbewerb „Jugend forscht“ ebenfalls in Chemnitz statt. War das Zufall?
Absolut. Aber ein sehr schöner. Das ist nun etwas ganz besonderes für die Stadt. Es wäre wünschenswert, dass man diese Woche in ihrer Gesamtheit betrachtet. Das ist etwas ganz Besonderes. Ich glaube, diese Nähe gab es noch nie in der Geschichte der beiden Wettbewerbe. Wir hoffen ganz stark, dass man das auch so wahrnimmt. Wir werden sogar Schüler dabei haben, die an beiden Wettbewerben mitmachen. Dass eine Klientel löst Probleme theoretisch, während die anderen mehr in die Praxis schauen. Die Kopplung beider ist natürlich ideal.

Wir wollen 2025 Kulturhauptstadt werden. Was kann die Mathematik zu einer erfolgreichen Bewerbung beitragen?
Meine Grundüberzeugung ist, dass Mathematik ein großes Kulturgut ist. Und wir führten schon Seminare in kulturellen Einrichtungen, wie dem Rathaus und dem Industriemuseum. Es gibt also durchaus die Verbindung von dem Kulturgut Mathematik und dem, was die Stadt prägt. Ich glaube schon, dass diese Grundfertigkeiten, die jeder Mensch haben sollte, ein ganzes Stück Kultur ist.

Wie stehen Sie selbst zu der Bewerbung?
Ich finde es immer gut, wenn Chemnitz den Mut hat zu sagen: Wir können etwas Besonderes leisten, wir haben etwas zu bieten und wir geben uns Mühe, das ordentlich zu präsentieren. Für so etwas bin ich sofort dabei, denn ich bin ein Optimist. Selbst wenn sich mehrere sächsische Städte zeitgleich bewerben, muss man sich auch mal durchbeißen wollen. Das ist gut. Es wird viel hängenbleiben, egal wie die Bewerbung ausgeht.

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