Ein Maskenspektakel
Mica Kempe
Macherin der Woche vom 22. Februar 2019
Die Reisen des venezianischen Händlers Marco Polo sind legendär. Seine Entdeckertouren quer durch Asien lehrten ihn nicht nur kulturübergreifende Freundschaften und Abenteuergeschichten, sondern auch Toleranz und Weltoffenheit. Anlässlich seines 765. Geburtstages haben sich daher verschiedene Einrichtungen aus der Region zusammengetan, um die Geschichte Marco Polos in der Oper Chemnitz zu erzählen. Mit dabei sind auch Menschen aus dem Wohnzentrum des Arbeiter-Samariter-Bundes. Mica Kempe leitet seit zehn Jahren die künstlerische Leiterin des Wohnzentrums und ist freischaffende Künstlerin. In Kooperation mit dem Centro Arte Monte Onore e. V. entwarf sie Choreografien, studierte Szenen ein und gestaltete fantasievolle Masken. Wie ein Theaterstück Menschen mit und ohne Handicap zusammenbringt, erzählt sie im Interview.
Am 23. und 24. Februar wird das Theaterstück Marco Polo in der Oper aufgeführt. Wie entstand die Idee für das inklusive Theaterstück?
Mica Kempe: Die Bewohner und ich haben in den vergangenen Jahren eigene Kalender kreiert, die wir im Foyer des Schauspielhauses anbieten durften. So ist Pier Giorgio Furlan, der Leiter des Kulturzentrums Centro Arte Monte Onore e. V., auf uns aufmerksam geworden. Nach einem Besuch in seinem Kulturzentrum in Kriebstein waren unsere Bewohner fasziniert von Masken und Kostümen. Also haben wir beschlossen, etwas Gemeinsames auf die Bühne zu bringen. Das erste eigenständige Rollimaskentheater fand dann 2013 auf der Bühne des Schauspielhauses statt. Angeregt durch das Konzept der Traumkonzerte, entstand die Idee für ein Theaterstück. [Anmerk. der Red.: Traumkonzert ist eine Veranstaltung, bei der Musiker mit und ohne Handicap zusammen mit der Robert-Schumann-Philharmonie ein Konzert aufführen.]
Was erwartet die Besucher bei dem Theaterstück?
Die Aufführung findet nach dem venezianischen Vorbild statt. Es ist also ein klassisches Maskentheater. Die Hauptfigur ist natürlich Marco Polo. Wir haben uns an historischen Aspekten entlang gehangelt, aber auch viele Sachen frei dazu gestaltet. Die Protagonisten im Stück haben ihre Masken alle selbst entworfen und hergestellt. Farben und Formen konnten die Bewohner mitbestimmen. Bei der Umsetzung erhielten alle Unterstützung durch das Centro Arte Monte Onore e. V, ehrenamtliche Helfer, meine Kollegen und mich. Es ist wichtig, dass die Darsteller sich mit ihren Masken, somit ihrer Rolle, identifizieren können, daher sollten sie auch die Designer ihrer Kostüme sein. Es wird definitiv ein großes Masken- und Kostümspektakel.
Über 120 Teilnehmer aus verschiedenen Einrichtungen, wie der Fichte Schule Mittweida, der Wohnstätte Kirchfeld, des Stadtverbandes der Gehörlosen, dem Hort am Stadtpark oder eben auch dem ASB Wohnzentrum für körperlich schwerstbehinderte Menschen spielen in der zweistündigen Aufführung das Leben von Marco Polo nach. Kulturzugehörigkeit, sozialer Status oder Handicap spielen dabei keine Rolle. Die Vielzahl an Mitwirkenden mit unterschiedlichen Bedürfnissen ist nicht nur sehr abwechslungsreich, sondern bringt auch Herausforderungen mit sich.
Inwieweit war das Proben in der Oper auch eine logistische Meisterleistung?
Das war für uns eine ganz neue Situation. Bei den vorherigen Produktionen waren wir immer im Schauspielhaus. Das sind unsere direkten Nachbarn, sodass keine Transportphasen benötigt wurden. Man hatte sich im Laufe der Zeit vor und hinter der Bühne auch gut auf uns eingestellt und dementsprechend Bedingungen geschaffen.
Im Opernhaus mussten wir logistisch quasi von vorne anfangen, das begann bei der Türbreiten, ging über die Toilettensituation bis schließlich zu den Platzkapazitäten für Rollstuhlfahrer als Zuschauer. Da kamen viele Herausforderungen auf uns zu, aber wir haben versucht, immer wieder kreative Lösungen finden.
Warum haben Sie das Projekt in der Wohngruppe mit angeregt?
Wir wollten raus. Sichtbar werden. Uns nicht hinter den Mauern des Wohnzentrums verstecken. Es ist immer eine gegenseitige Erfahrung für unter anderem die Mitarbeiter des Schauspiel- oder Opernhauses. Es kam vor 2013 noch nie eine Gruppe, die nur aus Rollstuhlfahrer bestand. Das gab der gesamten Produktion auch eine gute Prise Ernst. Es bringt viel mehr, sich gegenseitig zu verstehen und aufeinander einzugehen, wenn man an einer gemeinsamen Sache arbeitet.
Das Theaterstück ist ein Highlight im Leben der Bewohner, aber auch in Ihrem Arbeitsalltag. Wie sehen sonst Ihre alltäglichen Arbeiten als künstlerische Leiterin des Hauses aus?
Ich forme Projekte, natürlich mit meinen lieben Kollegen, für die Bewohner, die abseits der alltäglichen Routine sind, wie zum Beispiel eben das Theaterstück. Ich fühle mich für sozio-kulturelle Projekte verantwortlich. Als ausgebildete Soziologin bin ich daher nicht mit einer klassischen Ausbildung ins Wohnzentrum gekommen. Aber ich habe auch mit dem Fördermittel- und Sponsorenwesen zu tun, also bin ich in Anteilen auch eine Frau im Büro. Ob Kunst, Theater, Betreuung oder Pflege, mir ist es sehr wichtig, dass die Bewohner Wertschätzung erfahren.
Vor fast 20 Jahren kam Mica Kempe zum ersten Mal in das Wohnzentrum des Arbeiter-Samariter-Bundes. Ihre erste gute Tat war, eine eigene Galerie für die Bewohner zu errichten. Es folgten verschiedene soziokulturelle Projekte, die Mica Kempe eigenständig leitete. Zusammen mit interessierten Bewohnern rief sie zum Beispiel die Rembrandtkünstlergruppe, eine Kunstwerkstatt, ins Leben. Viele der damaligen Bewohner sind bereits verstorben, das Projekt lebt aber weiter. „Projekte wie das Theaterstück oder die Kunstwerkstatt sind etwas Besonderes, wirken lange nach und sind für die Bewohner sehr erzählenswert. Diese Höhepunkte abseits des alltäglichen Lebens sind schön. Für Jeden.“
Warum bietet sich ein Theaterstück für die Inklusion an? Was schafft Theater, was die Schule oder das Zuhause nicht schafft?
Theaterspielen schafft unheimlich viel Motivation. Die Bereitschaft, sich auf der Bühne zu zeigen und im Mittelpunkt zu stehen, ist eine große Herausforderung. Wenn man es dann schließlich geschafft hat, ist der Stolz auf einen selbst umso größer. Die Masken spielen dabei auch eine wichtige Rolle. Man zeigt sich zwar auf der Bühne, kann sich aber dennoch dahinter verstecken. Die Maske ist ein wunderbares Medium, das man selber schafft, um sich mit seiner Rolle zu identifizieren.
Diese Motivation ist mehr, als man in einer Therapiesituation schaffen kann. Wenn man zum Beispiel in der Therapie eine ausladende Armbewegung machen soll, dann macht man die halt. Wenn man das aber auf einer Bühne machen soll und gleichzeitig von über 100 Augenpaaren beobachtet wird, gibt das den Menschen einen unglaublichen Ansporn, eine noch bessere, größere, ausladendere Armbewegung zu versuchen. Auch die behinderten Menschen wollen eine Leistung erbringen und sind bereit, ihre eigenen Grenzen zu überschreiten. Das ist sehr, sehr schön. Durch den Auftritt auf einer Bühne bekommt das Ganze eine viel höhere Wertigkeit.
Die Bewohner brauchen sehr viel Zeit, um den Alltag zu bewältigen. Die freien Zeitfenster sind teilweise sehr eng, sodass so eine Theaterprobe ein spannender Moment im Wochenrhythmus ist.
Das Wohnzentrum feiert in diesem Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Am 10. Mai findet ein großes Fest statt. Die Bewohner und Mitwirkenden im Wohnzentrum wollen den Tag nicht nur zum Anlass nehmen, um auf die vergangenen Highlights und Errungenschaften des Hauses aufmerksam zu machen, sondern auch die Veränderungen und Engpässe in der Betreuung, die zurzeit allgegenwärtig sind, anzusprechen.
Chemnitz bewirbt sich als Europäische Kulturhauptstadt 2025. Was wünschen Sie sich bis dahin für die Stadt?
Chemnitz kann an vielen Stellen noch farbiger, fröhlicher, lebendiger und vielseitiger werden. Ich bewege mich oft mit dem Rad durch die Stadt, und wenn ich da den Chemnitzerinnen und Chemnitzern so ins Gesicht schaue, merke ich, dass noch eine Portion Lebenszufriedenheit und Ausstrahlung fehlt. Das überträgt sich auf die Stadt und umgekehrt. Die Kulturhauptstadt ist ein sehr großer Begriff, der sehr mächtig wirkt. Die Kulturhauptstadt kann einen Moment schaffen, der Stadt einmalig sehr viel Aufmerksamkeit zu geben. Wichtiger ist aber, dass im Kleinen jeder etwas dazu beiträgt, die Stadt lebenswerter zu gestalten und dass die Aktivitäten lange wirken.