„Wie ein Detektiv“
Dr. Jürgen Nitsche
Macher der Woche vom 11. Dezember 2020
So beschreibt Dr. Jürgen Nitsche seine Arbeit. Der freie Historiker, Autor und Kurator ist seit mehr als zwanzig Jahren auf der Spur jüdischer Familien, insbesondere aus Chemnitz und der Region. Wie kaum ein anderer hält er weltweit Kontakt zu Nachfahren dieser Familien und erzählt deren Geschichten weiter. Schon immer wollte er Geschichte machen, kein anderes Fach, nur Geschichte. Er ist seiner Passion gefolgt und hält damit die Erinnerung an viele große Chemnitzerinnen und Chemnitzer lebendig. Dr. Jürgen Nitsche engagiert sich in zahlreichen Gremien der Stadt. Er ist Beirat des Vereins „Tage der jüdischen Kultur in Chemnitz“, Mitglied der Koordinierungsstelle „Stolpersteine für Chemnitz“ und Gründungsmitglied der Internationalen Stefan-Heym-Gesellschaft e. V. In einem Aufsatz über Stefan Heym und die Vorbereitungen der 800-Jahr-Feier von Karl-Marx-Stadt 1965 stößt er auf neue Erkenntnisse über das Verhältnis von Stefan Heym zu seiner Geburtsstadt Chemnitz. Für die umfassende Recherche erhielt er 2017 einen von fünf Internationalen Stefan-Heym-Förderpreisen. Chemnitz und Stefan Heym: eine Liebesgeschichte? Das verrät er im Macher-der-Woche-Interview.
Sie haben die Entstehungsgeschichte des Buches „5 Tage im Juni“ von Stefan Heym unter die Lupe genommen und eine Zeitreise nach Karl-Marx-Stadt ins Jahr 1965 unternommen. Stefan Heym, einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller, seit 2001 Ehrenbürger von Chemnitz, sollte das Kuratorium zur Vorbereitung der Feierlichkeiten anlässlich des 800. Jubiläum der Stadt Karl-Marx-Stadt unterstützen. Doch nur wenige Monate nach seiner Einladung machte die Stadtspitze eine Kehrtwende und lud Heym kurzerhand wieder aus. Klingt nach einer merkwürdigen Episode. Warum genau dieses Thema für Ihren Aufsatz und Ihre Bewerbung für die Internationalen Stefan-Heym-Förderpreise?
Dr. Jürgen Nitsche: Wenn ich ehrlich bin, kam die Idee von Inge Heym. Sie hatte mir schon einmal vor sieben bis acht Jahren die Kopie eines Briefes gegeben von Stefan Heym an Stephan Hermlin aus dem Jahr 1975. In dem Brief nimmt Heym Bezug auf seine Ausladung. Er hat Stephan Hermlin gefragt, ob er auch ausgeladen worden wäre. Da habe ich damals schon gedacht, dass es eigentlich ganz interessant wäre, einmal zu recherchieren, was der Hintergrund war. Das fiel mir wieder ein, als 2017 die Stefan-Heym-Förderpreise ausgelobt wurden. Ich habe dann noch einmal mit Inge Heym gesprochen. Sie sagte, es wäre sehr gut und sie würde sich freuen, wenn wir die Sache beleuchten und so kam ich auf die Idee.
Sie schreiben in Ihrem Aufsatz, dass die Ausladung Stefan Heym nahegegangen sein mag. Haben Sie darüber mit Inge Heym gesprochen oder in Ihren Recherchen Hinweise darauf gefunden?
Im „Nachruf“, seiner Autobiographie, geht er auch auf dieses Ereignis ein, wenn auch nur kurz. Und dann sagte Inge Heym, immer, wenn sie in den Folgejahren an Chemnitz vorbei gefahren sind in Richtung Prag oder in andere Städte, war er sehr traurig oder nachdenklich und immer noch ziemlich enttäuscht, dass sie ihn damals ausgeladen hatten. Das ging solange, bis er Ehrenbürger wurde. Dann erst waren die Wunden, denke ich, mehr oder weniger verheilt. Das hat ihn schon beschäftigt. Schließlich hatte er sich bereit erklärt, in dem Ehrenkomitee zur Vorbereitung der 800-Jahr-Feier mitzuwirken, genau wie Stephan Hermlin. Er war froh und wollte mitmachen. Dann kam eine ganz lapidare Ausladung mit ein, zwei Sätzen vom Oberbürgermeister, dass man auf seine Mitarbeit verzichtet – ohne jede Begründung. Ich habe gedacht, dass wir herausfinden müssen, was eigentlich der Anlass dafür war. Dann bin ich auf die Lesung gestoßen.
Die „Freie Presse“ kündigte am 29. Januar 1965 im Rahmen ihres Veranstaltungskaleidoskops „Von Freitag zu Freitag“ ein Literaturgespräch von Stefan Heym für den 1. Februar 1965 im „Pressekaffee“ an. Zum Literaturgespräch eingeladen hatte die Agricola-Buchhandlung. Abgesprochen war, dass Stefan Heym allgemein einiges über das Schaffen eines Schriftstellers sagen wolle.
Ich denke, das ist neu und bisher noch nicht so bekannt in der Forschung, dass die Lesungen in Chemnitz und einen Tag später in Zwickau auslösendes Moment waren. Entgegen der Vereinbarung hatte er an beiden Orten aus seinem nicht veröffentlichtem Manuskript „Der Tag X“ gelesen.
Für Ihren Aufsatz haben Sie viele Dokumente gesichtet und ausgewertet. Hat Sie etwas besonders überrascht?
Eigentlich bekam Heym nur Zuspruch von allen Seiten. Das hat mich überrascht. Es gab damals so gut wie keine Ablehnung. Auch bei der Lesung nicht, nur von einer unbekannten Person. Und doch kippte das Ganze. Plötzlich wurde er zur Unperson.
Außerdem habe ich einiges über Personen aus dem Kulturschaffen in Chemnitz von damals erfahren, die mittlerweile gar nicht mehr bekannt sind. Ich habe noch ein bisschen recherchiert zu einer Schriftstellerin, Regina Hastedt, die ihn auch schon einmal eingeladen hatte. Ich habe mich auch beschäftigt mit dem Herrn, der ihn in der Lesung begleitet hat, Karl Otto. Der war auch Schriftsteller und Kommunist. Er hat ihn damals vorgestellt und das Interview während der Lesung geführt. Das ist ganz interessant. In meinem Aufsatz geht es also nicht nur um Stefan Heym, sondern auch um einige Personen der damaligen Zeitgeschichte. Schon deshalb hat es sich gelohnt, sich damit zu befassen.
Sie schreiben, dass selbst die Tagespresse positiv über die Lesung berichtete.
Genau, vor allem auch von den Blockparteien LDPD und NDPD. Sogar das Ausland hat darüber berichtet, über diese Lesung. Das war schon mehr oder weniger spektakulär für die damalige Zeit. Das war die Zeit zwischen Ende 1964 und 1965, als sich die Beziehungen zwischen Stefan Heym und der Partei- und Staatsführung allmählich zugespitzten.
Sehen Sie die Lesung in Karl-Marx-Stadt als Schlüsselmoment?
Als eines von mehreren. Es gab noch mehrere Reden, die er im Ausland gehalten hat. In der Slowakei und einer anderen Stadt. Minsk, glaube ich. Das waren eher die Schlüsselmomente. Da hat er vor allem die Parteiführung sehr stark angegriffen und kritisiert.
Ich habe festgestellt, Stefan Heym war ein unheimlich mutiger Mann. Das kann man sich gar nicht richtig vorstellen mit dem heutigen Standpunkt und den heutigen Erkenntnissen. Er war mehr oder weniger allein und hat sich als Schriftsteller mit dem ganzen Staat und der ganzen Partei angelegt. Respekt! Das hätten andere vielleicht nicht gemacht. Nur die wenigsten. Und dass, obwohl er damit rechnen musste, ins Gefängnis zu müssen. Aber er blieb seinen Prinzipien stets treu.
Im Oktober 2020 eröffnete im TIETZ das Stefan-Heym-Forum. Herzstück des Forums ist die originale Arbeitsbibliothek von Stefan und Inge Heym. Auch der hölzerne Schreibtisch ist nach Chemnitz gezogen. Auf ihm liegt ein dicker Band mit der Aufschrift „Der Tag X. Roman von Stefan Heym“. Gegen das Erscheinen dieses Buches über den Volksaufstand von 1953 wurde in der DDR ein langer Kampf geführt.
In Bezug auf das Manuskript „Der Tag X“ sprechen Sie von einer „Verhinderungsgeschichte“, die fast 30 Jahre währte und tausende Dokumente Stasiberichte hervorbrachte. Einige Unterlagen haben Sie nun gesichtet. Wie ist es Ihnen ergangen beim Studieren der Dokumente?
Ich war natürlich überrascht, dass überall, mehr oder weniger bei allen Veranstaltungen, IMs dabei waren, die darüber berichtet haben. Dass das so massiv war und durchgehend überall, war schon beachtlich. Diese IMs haben auch berichtet über diese Lesung. Einer taucht immer wieder auf. Unheimlich detailliert wurde berichtet. Die Überlieferung selbst ist natürlich auch überraschend. Stefan Heym war eine wichtige Person und da hat man ihn stärker beobachtet als andere.
„Das hätte meine Leute gefreut“, sagte Stefan Heym zu seiner Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Chemnitz 2001. Was glauben Sie, wie wichtig war diese Ehrung für die Beziehung von Stefan Heym zu seiner Geburtsstadt?
Mit meinen Leuten meinte er sicher seine ganze Familie, also die Familie Flieg. Ich denke, das war für ihn sehr wichtig. Ich hatte das Glück mit drei seiner Cousins sprechen zu können. In den Gesprächen habe ich erfahren, dass die Beziehung zu seinen Eltern und seinen Onkel und Tanten unheimlich belastet war. Er war wie ein Ausgestoßener damals. Seine Mutter hat sehr zu ihm gestanden. Seine Tanten und Onkel eher nicht. Sie hatten im vorgeworfen, wie ich das verstanden habe, dass seine Flucht nach Prag und zuvor das Gedicht Anlass oder Grund dafür waren, dass sich sein Vater 1935 umgebracht hat.
Sie halten Kontakt zu den Verwandten von Stefan Heym, die es weltweit noch gibt, zum Beispiel in Sao Paolo, London oder den USA. Wie nehmen Sie den Kontakt auf?
Das ist nicht ganz so einfach. Ich hatte das große Glück 1999, die Tochter von Dr. Arthur Weiner kennenzulernen. Dr. Weiner war früher 2. Gemeindevorsteher (Anmerkung der Redaktion: der Jüdischen Gemeinde Chemnitz), Rechtsanwalt, Notar, Kunstsammler. Am 10. April 1933 wurde er entführt und bei Wiederau ermordet. Seine ältere Tochter Anni habe ich in London angerufen. Ich habe sie gefragt, ob sie mir bei meiner Arbeit hilft.
Gemeinsam mit Dr. Ruth Röcher, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, brachte Dr. Nitsche 2002 das Gedenkbuch „Juden in Chemnitz: Die Geschichte der Gemeinde und des Jüdischen Friedhofs“ heraus. Die Vorbereitungen dafür begannen bereits 1999. Auf 500 Seiten beschäftigten sich die beiden Herausgeber ausführlich mit der Geschichte der Jüdischen Gemeinde und ihrer Mitglieder in Chemnitz. Das Buch macht dem Leser den einst prägenden Einfluss jüdischen Lebens auf die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Stadt bewusst.
Zum Glück hat sie ja gesagt. Ich habe sie im Frühjahr 2000 in London besucht. Sie hat mir jede Menge Adressen gegeben und mich überall empfohlen. Sie ist 93 Jahre alt geworden und hat zum Glück zu ganz vielen Chemnitzer Juden, Freunden und Freundinnen Kontakt gehalten, die ganzen Jahre über. So ging das damals los. Damals noch mit Briefen und Telefonaten. Von ihr bekam ich auch die Adressen von einem Cousin von Stefan Heym in London und dem Sohn einer Tante in den USA. Alle haben mich empfangen und unterstützt. Seitdem mache ich das.
Haben Sie eine Idee, wie man Stefan Heym, seine Ideen und Vorstellungen, aber auch die Geschichte der Chemnitzer Juden, mit der Sie sich befassen, in die jüngeren Generationen tragen kann? Das ist auch ein Anliegen, das die Stadt Chemnitz mit den Stefan-Heym-Förderpreisen verfolgt und das ganz im Sinne von Stefan und Inge Heym ist?
2003 habe ich beschlossen mich selbstständig zu machen und entschieden, dass ich noch Partner brauche für meine Arbeit. Ich habe die Friedrich-Ebert-Stiftung gewonnen als Verbündete. Zur gleichen Zeit habe ich auch Kontakt zur Volkshochschule aufgenommen. Zum Glück! Die Mitarbeiter dort hatten die Idee, Volkshochschule für jüngere Leute schmackhaft zu machen. Wir haben lange überlegt, wie wir das Ganze interessanter machen können und haben 2007 oder 2008 einen neuen Ansatz gewählt. Bilder vermitteln Geschichte war die Idee. Dann habe ich die Geschichte der Chemnitzer Juden anhand von Bildern und anderen Dokumenten erzählt. Weniger mit akademischen Vorträgen, sondern bloß mit Dokumenten, die ich gefunden, gezeigt und einfach besprochen habe. Da gab es wieder mehr Zuspruch. Dafür muss man erst einmal in den Besitz der Fotos kommen, wissen was drauf ist und frei reden. Das mache ich auch ab und zu noch so. Bislang fünf bis sechs Mal auch an Schulen. Besonders, wenn der Wunsch besteht von einzelnen Lehrern oder Schuldirektoren. Außerdem war ich schon zwei Mal außerschulischer Betreuer von besonderen Lernleistungen. Vor vier bis fünf Jahren hatte ich eine Schülerin, die später auch einen Preis bekam. Da ging es um Juden. Jetzt habe ich eine neue Schülerin, di sich mit der Verfolgung von Homosexuellen in der NS-Zeit befasst. Das macht natürlich viel Arbeit, aber ich denke, solche besonders begabte Schüler muss man unterstützen.
„Chemnitz dieser Name war einmal Begriff, Qualitätsausweis für eine Unzahl verschiedenster Industrie- und Konsumgüter […] Aber dieses Chemnitz gibt es nicht mehr“, zitieren Sie in Ihrem Aufsatz über Stefan Heym einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1965. Auch in der jüngsten Vergangenheit hat Chemnitz an Renommee verloren, insbesondere nach den Ausschreitungen 2018. Wie wichtig ist der Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“ für die Stadt und die Kulturregion?
Unheimlich wichtig. Das ist eine einmalige Chance für die Stadt und die Region, etwas fürs Image zu tun. Ich hoffe, die Stadt nutzt die Chance, damit die Bürger in Deutschland, Europa oder auch weltweit erkennen, was Chemnitz wirklich für eine Stadt ist. Ich hatte damals 2018 viele Anfragen aus dem Ausland bekommen. Verängstigte Anfragen. Ich habe immer gesagt, ganz so drastisch ist es dann doch nicht. Es ist aber schwer so etwas zu widerlegen. Die Kulturhauptstadt ist die Chance, das Gegenteil darzustellen.
Für Projekte und Initiativen, die sich in besonderer Weise mit Leben, Werk und Wirken Stefan Heyms beschäftigen, lobt die Stadt Chemnitz die Internationalen Stefan-Heym-Förderpreise in einem Gesamtwert von 20.000 Euro aus. Die Bewerbungsfrist ist bis 15. März 2021 verlängert.
Weitere Informationen zu den Internationalen Stefan-Heym-Förderpreisen finden Sie hier.