Alltag beim Sorgentelefon – Unterstützer gesucht
Kerstin Graff & Angela
Macherinnen der Woche vom 28. Februar 2020
Wenn Paul die kostenfreie Nummer 11 61 11 wählt, hat er Probleme: Mobbing in der Schule, Ärger mit den Eltern, Streit im Freundeskreis. Seine Sorgen bespricht er am liebsten mit dem Berater am anderen Ende der Leitung. Völlig anonym. Es wird ihm zugehört. Hier fühlt er sich verstanden. Über 70 Städte bundesweit, unterschiedlichen Trägern organisiert, beteiligen sich unter dem Dachverband „Nummer gegen Kummer“ daran. In Chemnitz ist das Kinder- und Jugendtelefon bei der Arbeiterwohlfahrt untergebracht. Die Koordinatorin Kerstin Graff und die ehrenamtliche Beraterin Angela erzählen, dass Kinder und Jugendliche dringend aufmerksame Zuhörer benötigen.
Was sind die Sorgen, mit denen sich Kinder und Jugendliche an die „Nummer gegen Kummer“ wenden?
Kerstin Graff: Mit wirklich allem. Auch Themen, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können. Vom Mobbing, Cybermobbing über Liebeskummer, Trauer, Sucht, Einsamkeit Schwangerschaften bei Minderjährigen bis hin zu Missbrauch oder unheilbaren Krankheiten.
Angela: Die Probleme sind wirklich vielfältig, aber auch traurig: Trauer in der Familie, Trennung der Eltern oder Leistungsdruck, besonders bei der Zeugnisausgabe. Die Kinder bekommen dann zuhause zu hören, dass sie nichts wert sind.
Kerstin: Manchmal melden sich auch Kinder, wenn das Haustier, beispielsweise der Hamster, gestorben ist. Das kann für sie ein ganz großer Schmerz sein. Ein anderes großes Thema, das Jugendliche sehr beschäftigt: Das Erste Mal.
Angela: Es rufen auch austherapierte Kinder bei uns an, die sich Gedanken um Mama und Papa machen. Diese Kinder wissen, dass ihre Organe irgendwann versagen. Sie machen sich die größten Sorgen um Mama und Papa: Was passiert, wenn sie nicht mehr da sind? Für mich sind das sehr wertvolle Gespräche.
Ab welchem Alter rufen die Kinder bei Ihnen an?
Kerstin: Eigentlich von 8 bis 25 Jahren. Die Hauptgruppe liegt im Alter von 13 bis 16 Jahren – mitten in der Pubertät. Es rufen aber auch unter 8-Jährige an. Zum Beispiel Erstklässler. Wenn ein Kind in dem Alter absolut niemanden hat, dem es sich anvertrauen kann, ist das eine Katastrophe. Aber manchmal können Kinder eben nicht zu Mama oder Papa gehen.
Wie beschaffen sich Kinder die Telefonnummer? Besonders bei 6-Jährigen kann man sich das schwer vorstellen.
Angela: Sie bekommen die Nummer in der Schule oder im Krankenhaus. Ich habe kürzlich erst erfahren, dass die Nummer in den neueren Telefonen bereits eingespeichert ist.
Kerstin: In manchen Hausaufgabenheften steht sie auch bereits drin. Wir nutzen auch die Möglichkeit, in Schulen zu gehen, um das Angebot bekannt zu machen. Oder stellen uns bei Veranstaltungen mit einem Infostand hin und reden mit Kindern und Eltern.
Das Angebot des Dachverbandes "Nummer gegen Kummer" richtet sich an Kinder und Jugendliche und ist montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 - 111 0 333 erreichbar. Am Samstag nehmen die jungen Berater des Teams "Jugendliche beraten Jugendliche" die Gespräche an. Dabei steht das Telefon nie still. Vergangenes Jahr haben über die Kontaktstelle in Chemnitz 3.771 telefonische Beratungen stattgefunden. Insgesamt gingen mehr als 15.000 Anrufe ein. „Die mehr als 11.000 Anrufe sind so genannte alternative Kontaktanrufe – Scherzanrufe, Aufleger, Schweiger oder jemand möchte sich über Beratungen erkundigen bzw. sich für ein Gespräch bedanken, das vor einigen Tagen oder Wochen geführt wurde“, erzählt Kerstin Graff.
Sind Sie aufgeregt vor einem Arbeitstag, weil Sie nicht wissen, was Sie erwartet?
Angela: Anfänglich schon. Dann habe ich mir gewünscht, dass kein schlimmes Gespräch kommt. Aber jetzt ist es nicht mehr so.
Kerstin: Ich glaube vor dem ersten Telefonat hat wahrscheinlich jeder wacklige Knie. Es ging mir auch so, weil man nicht weiß, was einen erwartet. Vom Spaßanruf bis zum schlimmsten Fall kann alles dabei sein. So ein Gespräch kann sehr lange gehen – eine oder sogar zwei Stunden. Weil die Probleme so komplex sind und so viele Faktoren rein spielen. Ich hatte einmal jemanden am Telefon, der hat sich das alles, was er erzählen wollte, aufgeschrieben. Er hat dann über 15 Minuten vorgelesen. Das war so viel und so komplex.
Gehen Sie nach dem Arbeitstag mit einem zufriedenem oder ängstlichem Gefühl nach Hause? Sie erfahren ja nie das Ergebnis Ihrer Beratung?
Kerstin: Nein, eigentlich erfahren wir das Resultat nicht. In den seltensten Fällen ruft jemand im Nachgang an und möchte sich bedanken. Trotzdem habe ich ein gutes Gefühl, auch weil man in schwierigen Gesprächen anhand der Stimmlage des Anrufers merkt, wie es ihm geht.
Angela: Schlimm ist, wenn ein Kind auflegt. Dann sitzen wir da und wissen erst einmal nicht, was wir machen sollen. Wenn es ein schwieriges Gespräch wird oder ich merke, dass es eine komplizierte Richtung nimmt, dann bitte ich das Kind direkt, nicht aufzulegen. Oder wenn es auf eine Frage nicht antworten will, dann ist das auch ok.
Kerstin: Wir erfahren immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben des Anrufers. Genau das, was uns mitgeteilt wird. Aber wir können nie die komplette Situation erfassen.
Angela, die ihren wirklichen Namen nicht nennen möchte, arbeitet seit sieben Jahren als ehrenamtliche Helferin beim Sorgentelefon. „Es ist nicht nur für die Kinder, sondern auch für uns Berater anonym“, erklärt sie. Sie und Kerstin Graff sind zwei von rund 20 Beraterinnen und Beratern in Chemnitz, die in Zwei-Stunden-Schichten arbeiten. Fakten: Die jüngsten sind Anfang 20 und die ältesten 68 Jahre alt. Sie kommen aus allen Berufen und aus allen Schichten. Es sind auch Studierende dabei. „Wir suchen immer neue Mitarbeiter“, so Graff. Am 13. März startet der neue Lehrgang für ehrenamtliche Berater. In rund 120 Stunden werden praxisorientiert Kenntnisse in Kommunikation, Beratungstechniken und jugendrelevanten Themen vermittelt.
Bevor ehrenamtliche Helfer bei Ihnen anfangen können, gibt es eine Ausbildung, die 120 Stunden umfasst. Das klingt sehr viel. Wann und was passiert da?
Kerstin: Die Ausbildung findet am Wochenende statt: Zumeist an Samstagen. Es gibt aber auch drei Blöcke, in denen ein halber Sonntag enthalten ist. Die Ausbildung ist spannend, praxisorientiert und sehr kurzweilig. Wir beginnen mit einem theoretischen Sockel, versuchen die eigene Rolle, die eigenen Grenzen herauszufinden. Es ist ganz wichtig, dass man Verständnis für sich selbst hat. Wir arbeiten uns dann vom empathischen Zuhören über Kommunikationsmodelle zur Praxis und trainieren die Gesprächssituationen. Alles was irgendwie vorkommen kann. Außerdem sind wir bei Experten, wie Pro Familia und bei der Fachstelle für Suchtprävention.
Welche Eigenschaften sollte ein ehrenamtlicher Helfer mitbringen?
Angela: Ganz wichtig: Zuhören. Auch das Ungesagte heraushören. Es zählt nicht die persönliche Meinung, sondern ich bin für das Kind da. Ich muss wirklich versuchen, das Kind auf den Weg zu bringen, dass es sich selbst hilft. Ihm Mut machen, gut zureden, das Kind stärken.
Kerstin: Ein Berater muss zwei Eigenschaften mitbringen: Empathiefähigkeit und Authentizität. Wenn ich empathisch bin, kann ich zuhören und die Geschichte hinter der Geschichte erfassen. Und ich muss authentisch sein, sonst fühlt sich der Anrufende nicht angenommen, im schlimmsten Fall auf irgendeine Art und Weise verschaukelt. Ich muss ehrlich sein. Sowohl zu den Opfern als auch zum Täter, wenn der anruft.
Welche Zielgruppe als Berater möchten Sie ansprechen?
Kerstin: Menschen, die eine sinnvolle Tätigkeit suchen, sich engagieren möchten, gern mit Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiten oder für das Berufsleben Erfahrungen sammeln möchten. Die Berater, die wir vordergründig suchen, sollten mindestens 18 Jahre alt sein. Bevor die Ausbildung startet, führen wir ein Kennenlerngespräch, indem sich beide Seiten beschnuppern können. Man muss sich aber bewusst sein, dass ein stark ausgeprägter Helferdrang eher ungünstig für unsere Arbeit ist. Diese Menschen halten die Arbeit hier nicht aus. Wir können aber nicht losgehen und jemanden irgendwo herausholen. Das ist für viele ein Problem. Unsere Hilfe ist das Zuhören.
Was waren Ihre Beweggründe beim Kinder- und Jugendtelefon anzufangen?
Angela: Einerseits hat mich die Ausbildung sehr gereizt, andererseits geht es mir persönlich sehr gut und ich wollte einfach etwas Gutes zurückgeben. Für mich war auch wichtig, dass ich mir die Zeit selber einteilen kann. Es kann sich jeder selber in den gemeinsamen Kalender eintragen. Die Arbeitseinsätze sind flexibel.
Wie viele Dienste hat ein Berater?
Kerstin: Ca. drei Dienste zu je zwei Stunden pro Monat. Dann kommt noch eine Supervision für die Berater dazu, in der Probleme besprochen werden. Die Telefonnummer ist unter der Woche täglich von 14 bis 20 Uhr besetzt. An Samstagen steht das Kinder- und Jugendtelefon unter dem Motto: Jugend berät Jugend. Jugendliche von 16 Jahren beraten gleichaltrige. Leider haben wir hier in Chemnitz gerade keine Jugendlichen, die das machen. Ich würde sie langfristig gesehen aber gerne ausbilden.
Hat die Tätigkeit Ihr Leben verändert?
Angela: Ja. Mein Blick auf die heutige Jugend ist ein anderer geworden. Und es zählt nicht meine Meinung, sondern im Vordergrund steht das Wohlbefinden des Kindes. Das Wichtigste ist, dem Kind muss es gut gehen. Außerdem bin ich großzügiger geworden. Davon profitieren meine Enkelkinder (lacht).
Kerstin: Jeder, der hier arbeitet und berät, den verändert das auch. Man bekommt eine ganz andere Sicht auf die Dinge.
Anfang des Jahres verlieh der AWO Bundesverband dem Kinder- und Jugendtelefon des AWO Kreisverbandes Chemnitz und Umgebung den zweiten Platz beim Lotte-Lemke-Engagementpreis. „Darauf sind wir sehr stolz“, sagt Kerstin Graff. „Uns gibt es seit 1990. Damit sind wir das erste Kinder- und Jugendtelefon in den neuen Bundesländern.“
Warum wurde das Kinder- und Jugendtelefon ins Leben gerufen?
Kerstin: Das war vor meiner Zeit. Ich bin erst seit 2013 dabei. Aber ich nehme an aus den gleichen Gründen, aus denen es heute noch besteht. Weil es notwendig ist, dass Kinder und Jugendliche einen neutralen, wertschätzenden Ansprechpartner haben. Ganz oft haben das Kinder und Jugendliche nämlich nicht.
Interessierte, die sich ein Ehrenamt beim Kinder- und Jugendtelefon vorstellen können, melden sich bitte bei Kerstin Graff, 0371/6956152 oder kjt@awo-chemnitz.de. Weitere Infos auch unter www.nummergegenkummer.de