Hilfe ganz ohne Vorurteile
Janice Schmelzer
Macherin der Woche vom 10. Dezember 2021
Im Alter von 13 Jahren hatte Janice Schmelzer ein Erlebnis, das sie berührte: Auf dem Weg zum Geschenkekauf in der Vorweihnachtszeit sah sie einen obdachlosen Menschen und beschloss spontan, lieber Kleidung und einen heißen Kaffee für ihn zu kaufen. Das war der Beginn der Initiative »Spendensparschwein Rosalie«: Seither legt Janice Schmelzer jeden Monat die Hälfte ihres Taschengelds beiseite und ruft zu Spenden auf. Im Macherin-der-Woche-Interview erzählt die 17-Jährige, warum ihr es eine Herzensangelegenheit ist, obdachlosen und von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen zu helfen.
Frau Schmelzer, was wünschen Sie sich zu Weihnachten?
Janice Schmelzer: Dass ich mein Ziel schaffe, das ich mir für dieses Jahr vorgenommen habe: Dass ich mit Rosalie wieder vielen Menschen helfen kann. Ich freue mich, wenn ich den Klienten wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubern und ihnen ein Stückchen von dem Weihnachtsgefühl geben kann. Und dann möchte ich, dass es meiner Familie gut geht und dass es in der Schule weiterhin gut läuft.
Was ist denn das Ziel?
Wir packen keine Winterbeutel wie in den vergangenen drei Jahren. Natürlich werden wir wieder Spenden abgeben, aber dieses Jahr ist der Plan, persönliche Wünsche zu erfüllen. Dazu suchen wir Gutschein- Paten. Die Idee ist, für etwa 50 Klienten in den Wohnprojekten einen Gutschein auszustellen, mit denen sie sich in einem Einkaufszentrum einen Herzenswunsch erfüllen können. Das zielt mehr auf die Persönlichkeit jedes Einzelnen ab, während die Winterbeutel immer den gleichen Inhalt hatten. Wir planen für jeden einen 10- Euro-Gutschein. Das klingt erstmal nicht viel, aber für 50 Personen ist das trotzdem eine stattliche Summe, die man erstmal aufbringen muss. Und zeitlich ist es besser, weil ich es neben der Schule dieses Jahr nicht schaffe, so viele Beutel zu packen.
Wie läuft das bisher?
Bisher haben wir etwa 15 Paten, wobei uns jemand gleich 30 Euro überwiesen hat. Das fand ich wirklich: Wow!
Das ist die spezielle Aktion in der Winterzeit. Wie gehen Sie abseits dessen beim Helfen vor? Treffen Sie die Obdachlosen auf der Straße?
Nein. Ich stehe derzeit mit zwei Einrichtungen in Kontakt: dem Tagestreff Haltestelle und dem Wohnprojekt I in der Heinrich- Schütz-Straße 84, der Notschlafstelle. Bei denen frage ich jeden Monat ab, was gebraucht wird. Dann rufe ich zum Beispiel bei Facebook dazu auf und sage: ‚Wir benötigen gerade Duschbäder.‘ Manches, das ständig gebraucht wird, kaufen wir auch auf Vorrat, wenn es zum Beispiel im Angebot ist – wie Dosensuppen oder Zahncreme. Straßenarbeit mache ich in letzter Zeit weniger, auch durch die pandemische Lage. Ich muss schauen, dass ich immer noch die Einrichtungen besuchen kann und dort niemanden gefährde.
Und Einkaufen gehen Sie von den Spendengeldern?
Genau. Was gerade gebraucht wird: Jetzt im Winter sind das Mützen, Handschuhe und Schals, aber auch Hygieneartikel wie Duschbäder und Cremes und natürlich Lebensmittel. Wir haben auch schon mal eine Einrichtung mit zehn Wasserkochern ausgestattet. Auch gute gebrauchte Kleidung wird benötigt.
Wie viele Menschen erreichen Sie damit?
Das lässt sich schwer sagen. Bei vielen Menschen sieht man auf den ersten Blick nicht, ob sie wohnungslos oder obdachlos sind. Es gibt Menschen, die gehen jeden Tag arbeiten, haben zum Beispiel einen Bürojob. Sie ziehen sich jeden Tag ihren Anzug an und gehen zur Arbeit, und haben trotzdem nicht genug Geld, um sich eine Wohnung leisten zu können. Oftmals werden auch die Menschen, bevor sie richtig obdachlos werden, erstmal zum Sofahopper, das heißt sie kommen bei Bekannten oder Freunden unter oder schlafen in der Gartenlaube. Das sind dann die Wohnungslosen.
Im Wohnprojekt I lebten Stand Ende September 34 Personen. Zehn davon nutzten nur die Möglichkeit einer Notunterkunft im Nachtquartier. Weiterhin gibt es im Tagestreff Haltestelle für Menschen ohne eigene Wohnung die Möglichkeit, sich eine einzurichten. Hilfen zur Beendigung oder Verhinderung von Wohnungslosigkeit nehmen monatlich laufend ca. 450 Personen bei der Stadt Chemnitz in Anspruch.
Übergeben Sie die Spenden an die Menschen direkt?
Nein, das überlasse ich den Einrichtungen. Deren Leiter kennen ihre Klienten viel besser. Aber mittlerweile bin ich dort schon bekannt und es ist immer schön, mal kurz ins Gespräch zu kommen, zum Beispiel, wenn sie mir beim Reintragen der Spenden helfen. Ich habe das Gefühl, das tut den obdachlosen Menschen gut, sich einfach mal über Belanglosigkeiten zu unterhalten, ganz ohne Vorurteile. Denn es passiert ihnen relativ häufig, dass Leute an ihnen vorbeigehen und dabei den Kopf voller Vorurteile haben.
Wie reagieren die Menschen in den Einrichtungen auf Sie?
Wenn ich reinkomme, merke ich, die Menschen fangen an zu strahlen. Sie wissen mittlerweile, dass ich jeden Monat komme. Sie merken die Beständigkeit. Und dass meine Hilfe immer noch bedingungslos ist, und so wird es auch bleiben. Sie freuen sich über die kleinsten Sachen. Ich fühle mich dann teilweise schlecht, wenn ich nach Hause komme und sehe, in welchem Luxus ich dagegen lebe.
Dazu passt das Motto, das Sie sich selbst gegeben haben: ‚Es gibt viele Gründe, warum jemand auf der Straße landet. Aber es gibt keinen einzigen Grund, ihn nicht wie einen Menschen zu behandeln‘.
Viele gehen an obdachlosen Menschen vorbei und behandeln sie wie den letzten Dreck. Das kann ich nicht verstehen. Man vergisst, dass es genauso Menschen sind wie wir. Ich möchte mit meiner Aktion den Betroffenen auch ein stückweit ihre Würde zurückgeben, die andere Menschen kaputt gemacht haben. Und zugleich möchte ich dazu anregen, dass die Gesellschaft ihre Vorurteile gegenüber auf der Straße lebenden Menschen überdenkt. Ich wünsche mir, dass die Menschen mehr Feingefühl bekommen für ihre Mitmenschen in Not.
Inzwischen ist Janice Schmelzer mehrfach ausgezeichnet worden. Unter anderem erhielt sie beim Chemnitzer Friedenspreis den Jugendpreis und beim Kinder- und Jugendpreis des Deutschen Kinderhilfswerks in der Kategorie »Solidarisches Miteinander« eine lobende Erwähnung und ein Preisgeld in Höhe von 3000 Euro.
Wie kommen die Spenden zu Ihnen?
Einerseits erhalte ich regelmäßig Sachspenden. Zum Beispiel gibt es Leute, die stricken fleißig: Mützen, Schals, Handschuhe, Socken – alles Mögliche. Dafür bin ich super dankbar. Es gibt auch ein paar Unternehmen, die uns unterstützen. Privatleute spenden regelmäßig einen kleinen Geldbetrag oder bringen Lebensmittel oder Hygieneartikel vorbei. Das sind oft Menschen, denen es selbst nicht allzu gut geht, die vielleicht Schicksalsschläge hinter sich haben. Das finde ich einerseits traurig, andererseits ist das ein absolutes Vorbild.
Wie hat Corona Ihren Einsatz verändert?
Die Spendenbereitschaft ist zwar da, Übergaben sind aber schwieriger. Die Leute sind vorsichtiger geworden. Leider geht es auch aus Hygienegründen nicht, zum Beispiel eine selbstgekochte Suppe vorbeizubringen. Deshalb verteilen wir nur abgepackte Lebensmittel.
Machen Sie das alles alleine?
Nein, ich bin ja noch unter 18. Aber meine Eltern unterstützen mich sehr. Wir entwickeln gemeinsam Ideen. Mein Papa fährt viel, holt ab und bringt hin. Und meine Mama hilft mir beim Facebook-Auftritt und bearbeitet E-Mails. Ohne meine Eltern könnte ich das nicht machen. Mit unserem Projekt sind wir bei einem Verein untergekommen, um auch das Spendenkonto extra laufen lassen zu können.
Ihr Vater Wolfram Schmelzer, der Janice Schmelzer zu dem Interview begleitete, wirft ein: »Wir sind unglaublich stolz auf sie und sind begeistert, dass sie das inzwischen im vierten Jahr so durchzieht. Wir unterstützen sie, wo wir können.« Für die Eltern kam das Engagement nicht überraschend: Schon in der vierten Klasse organisierte Janice Schmelzer einen Flohmarkt, um Geld für Opfer eines Tsunamis auf den Philippinen zu sammeln.
Wie schaffen Sie das zeitlich? Sie gehen doch noch zur Schule, oder?
Ja, das ist manchmal ganz schön viel. Ich gehe in die 12. Klasse eines Beruflichen Schulzentrums und mache nächstes Jahr mein Abitur, Fachrichtung Gesundheit und Soziales. Da muss ich viel lernen.
Erhalten Sie viel Unterstützung von Gleichaltrigen?
Das ist schwierig. Bei meinen früheren Klassenkameraden stieß ich eher auf taube Ohren. In der jetzigen Klasse sind einige, die das ganz cool finden. Aber mehr ist daraus bisher nicht geworden. In meiner Generation gibt es durchaus engagierte Menschen, aber eher für andere Dinge wie Umwelt und Klima. Ich würde mich freuen, wenn ich genauso viele ‚Anhänger‘ hätte, und wenn es nur für eine Woche wäre.
Wo steht Rosalie eigentlich?
Meine Original-Rosalie gebe ich nicht her, die habe ich aus Kindertagen und die bleibt bei mir. Aber es gibt noch eine Handvoll Exemplare, die unter anderem im Handel oder in Physiotherapien stehen. In meiner Rosalie landet die Hälfte meines Taschengelds, meist fünf bis zehn Euro im Monat, oder das, was ich durch Nachhilfe dazu verdiene.
Was wollen Sie später beruflich machen?
Da bin ich mir noch nicht sicher. Dieses Engagement will ich in meiner Freizeit belassen, denn die heftigen Schicksale sind schon belastend. Nach dem Abi will ich vieles ausprobieren und erstmal für ein Jahr in die USA gehen. Dort war ich mit 15 schon mal für einen Austausch und habe unter anderem in einem Heim für obdachlose Kinder geholfen.
Wie geht es dann mit Rosalie weiter?
Obdachlose Menschen gibt es in jeder Stadt. Deshalb ist es mein Wunsch, dass es in jeder großen Stadt ein Spendensparschwein Rosalie gibt und eine Gruppe Jugendlicher, die das in ähnlicher Form fortführt. Es ist eine gute Möglichkeit, der jungen Generation die Gelegenheit zu geben, etwas für andere Menschen zu tun. Wir hatten versucht, das in Leipzig zu installieren, aber es braucht viel Netzwerk-Arbeit. In der Pandemie ist es schwierig, persönliche Kontakte aufzubauen. Da wäre ich gerne schon weiter. Aber ich bleibe dran, versprochen.
Spendenkonto: Schönau e.V. Spendensparschwein Rosalie DE98 8306 5408 0104 1862 73