Die Stadtbibliothek ist ihr Lebenswerk
Elke Beer
Macher der Woche vom 16.04.2021
In den vergangenen Wochen hat Elke Beer viel gepackt, sortiert und archiviert. „In den vergangenen Jahrzehnten ist manches liegengeblieben. Das musste ich nachholen“, verrät sie lächelnd. Bei 31 Jahren als Leiterin der Stadtbibliothek Chemnitz und 46 Jahren als Mitarbeiterin der Einrichtung ist das nachvollziehbar. „Wenn man aufgeräumt geht, fällt der Abschied ein bisschen leichter.“ Mit Elke Beer geht eine Institution der Stadtverwaltung am heutigen Freitag in ihren wohlverdienten Ruhestand. Zeit um einen Rückblick auf ihr aufregendes Berufsleben zu werfen.
Wie schwer fällt Ihnen der Abschied?
Es fällt mir sehr schwer. In so vielen Jahren, das darf ich schon sagen, ist die Bibliothek zu meiner Herzensangelegenheit geworden, oder mit Falladas Worten (Anmerk. d. Red. Hans Fallada, Schriftsteller) – die zu meinem Lebensmotto wurden – ausgedrückt: „Man muss sein Herz an etwas hängen, was es lohnt.“ Deshalb gehe ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Vor allem kann ich sehr schwer loslassen. Aber ich habe es mir ganz fest vorgenommen, meine Kolleg:innen nicht zu oft zu fragen, wie es denn so „läuft“. (lacht).
Fällt Ihnen rückblickend betrachtet in dieser langen Zeit ein besonderer Höhepunkt unter den vielen ein, an den Sie sich besonders gern erinnern?
Das größte und einprägsamste Erlebnis war 2004 der Umzug der Stadtbibliothek ins TIETZ, ein Haus direkt im Herzen der Stadt – ein Traum für eine Bibliotheksleiterin. Besser konnte es nicht kommen. Es war ein sehr bewegender Moment. Nicht nur für uns Mitarbeiter:innen, sondern natürlich auch für die Chemnitzer Bevölkerung. Sie haben dieses Haus, diese Bibliothek gestürmt und waren begeistert. Beim Gedanken daran bekomme ich heute noch Gänsehaut.
Natürlich gab es noch viele weitere Höhepunkte. Wie 1992 die Einführung des ersten Computers, der unsere Zettelkataloge ablöste. Oder unsere großen Bibliotheksgeburtstage, wie 1994 der 125-Jährige und 2019 das 150-jährige Jubiläum. Und unzählige kleinere Veranstaltungen, zu denen wir aber große namhafte Künstler:innen, Autor:innen und Schauspieler:innen zu Gast hatten. Beispielsweise Iris Berben, Christoph Hein und Manfred Krug. Aber eigentlich war der tägliche Gang durch das TIETZ und durch die Bibliothek mit Blick in die zufriedenen Gesichter der eigentliche Lohn für unsere Arbeit.
Nach 54 Jahren zog die Stadtbibliothek aus den Räumen am Schillerplatz in das ehemalige Kaufhof-Gebäude an der Moritzstraße – das TIETZ. Unter einem Dach mit der Volkshochschule, dem Museum für Naturkunde und der Neuen Sächsischen Galerie wurde die Bibliothek zu einem Ort der Begegnung, öffentlicher Lern-, Arbeits- und Kommunikationsort für alle Chemnitzer:innen. „Ich durfte bei der Planung und der Einrichtung des TIETZ dabei sein. Und das alles mit einem wunderbaren Team. Dafür möchte ich mich von Herzen bedanken“, verrät Elke Beer.
Gemeinsam mit Ihrem Team haben Sie auch Herausforderungen bewältigt. Wie am Abend des 2. Juni 2013, als Sie einen Anruf erhielten und direkt ins TIETZ kommen sollten, weil die Bücher vom Hochwasser bedroht waren.
Da haben meine Knie geschlottert. Die Moritzstraße und der Parkplatz waren schon mit Wasser bedeckt. Das war für mich ein ganz schlimmes Gefühl, weil ich nicht wusste, ob es die Bücher im Magazin überlebt haben. Mit Gummistiefeln an den Füßen retteten wir dann die wertvollen Bücher aus dem Magazin. Das war ein Ereignis, an das ich mich nur ungern erinnere.
Wie hat sich die Bibliothek in dem fast halben Jahrhundert verändert?
Bibliotheken sind heute viel mehr als die Leihbüchereien, wie man sie von früher her kennt. Was die Nutzer:innen alles geboten bekommen, alles nutzen können und für wenig Geld im Jahr! Neben der aktuellen Literatur sowie Zeitungen und Zeitschriften, Filmen, Musik und Spielen im Regal, auch als digitales Medienangebot, kommen Gaming-, Streaming- und Datenbankangebote hinzu. Schüler:innen erledigten hier ihre Hausaufgaben, Studierende ihre Seminararbeiten, ältere Semester machten sich fit im Umgang mit elektronischen Katalogen und Lesegeräten für E-Books. Die Bedeutung der Bibliothek als Ort, als kulturelles Zentrum einer Stadt oder eines Stadtteils nimmt spürbar zu.
War der Entschluss des Chemnitzer Stadtrates, finanzielle Mittel für einen neuen Bücherbus zur Verfügung zu stellen, ein schönes Geschenk zum Abschied?
Absolut. Auch im Zeitalter der Digitalisierung benötigen wir einen Bücherbus für die große gesellschaftliche Aufgabe der Leseförderung. Dieser ist wichtig, weil es beispielsweise kein ausgebautes Schulbibliotheksnetz in Chemnitz gibt. Deshalb ist der Bücherbus unter anderem zwölf Grundschulen angefahren.
Wie sehen Sie die Entwicklung vom analogen Lesen in einem Buch, zum digitalen Format?
Das ist die größte Veränderung während meiner Tätigkeit. Vom Buch, das man in die Hand nehmen, blättern, riechen kann, zum E-Book-Reader, zur Digitalisierung. Auf der einen Seite sehe ich die vielen Vorteile der schnellen Verfügbarkeit für jeden Einzelnen. Aber was mir besondere Angst macht, sind die Meinungen, dass man im Zeitalter der Digitalisierung keine Bibliotheken mehr benötigt. Dabei spielt die Leseförderung in Bibliotheken eine so große und bedeutende Rolle für die Gesellschaft. Wenn man bedenkt, dass 30 Prozent der Kinder nie vorgelesen bekommen. Viele Haushalte besitzen noch nicht einmal Bücher. Die Kinder werden das erste Mal in ihrem Leben mit einem Buch hier in der Bibliothek oder in der Kita konfrontiert.
Unter Beers Leitung entwickelte sich die Stadtbibliothek zu einer modernen, innovativen Einrichtung. Mit ihrem Team gestaltete sie den digitalen Wandel mit aktuellen Medien, modernen Informationstechnologien und professioneller Informationsvermittlung. Großes Augenmerk legte sie dabei auch auf die Aufenthaltsqualität und entwickelte die Bibliothekseinrichtungen zu Orten der Begegnungen und Kommunikation sowie der Inklusion und Integration. Durch vielfältige Projektarbeit und Kooperationen hat die Stadtbibliothek ein großes Netzwerk geschaffen und ist Partner zahlreicher Bildungseinrichtungen und Vereine der Stadt und der Region. Für diese engagierte Arbeit wurde die Stadtbibliothek Chemnitz 2006 im Wettbewerb „Bibliothek des Jahres“ mit dem zweiten Platz ausgezeichnet. Im damaligen bundesweiten Leistungsvergleich für Öffentliche Bibliotheken (BIX) belegte sie in den Jahren 2010 den zweiten und 2011 den dritten Platz. Im Jahr 2012 wurde sie mit dem Sächsischen Bibliothekspreis ausgezeichnet. Mit rund einer halben Million Besucher jährlich ist die Bibliothek die am stärksten frequentierte Kultur- und Bildungseinrichtung in der Stadt.
Was wird Ihnen am meisten fehlen?
Die Möglichkeit, die das kulturelle und literarische Leben in unserer Stadt mitgestalten zu können. Das hat mir großen Spaß gemacht. Gemeinsam mit einem fantastischen, engagierten Team in der Stadtbibliothek und den vielen tollen Netzwerkpartnern.
Was machen Sie als erstes als Rentnerin?
Auf alle Fälle wieder mehr für die Gesundheit tun. Und es warten viele Projekte zu Hause auf mich (lacht). Ich möchte mich wieder Hobbys widmen, die in den Jahren zu kurz gekommen sind. Beispielsweise malen oder meinen Bücherstapel durchlesen, den ich bisher noch nicht geschafft habe.
Das verwundert jetzt. Liest man als Bibliothekschefin nicht ständig?
Doch, das tut man natürlich immer, oft eben auch Fachliteratur, um immer auf dem Laufenden zu bleiben. Man beschäftigt sich mit den Antworten auf die Frage: „Wie können wir mit unseren Dienstleistungen bei der Wissensvermittlung sowie bei der Lösung von gesellschaftlichen Herausforderungen helfen und mitwirken?“ Zu DDR-Zeiten erschienen 6.000 Buchtitel pro Jahr auf dem Markt. Heute sind es 80.000 und mehr. Da muss man versuchen, den Überblick zu behalten. Deshalb liebe ich den Beruf so. Man ist immer aktuell, soweit es möglich ist. Aber manchmal fehlt auch die Muße zum Schmökern, außer natürlich im Urlaub.
Haben Sie den Beruf der Bibliothekarin direkt gelernt und wie sind Sie zur Stadtbibo gekommen?
Ja, ich bin Diplom-Bibliothekarin und seit 1975 in der Stadtbibliothek Chemnitz tätig. Ich hätte nie einen schöneren Beruf erlernen und studieren können. Bibliothekarin zu sein, war für mich immer etwas Besonderes.
Ich habe als technische Mitarbeiterin in der Stadtbibliothek angefangen. In Akkordzeit mussten wir die Bücher früh einstellen, jeden Freitag die komplette Bibliothek wachsen und bohnern. Ich habe von der Pike auf alles gelernt, war in allen Bereichen der damaligen Stadt- und Bezirksbibliothek. Ich hatte nie geplant, die Leitung eines Teams von derzeit 60 Mitarbeiter:innen zu übernehmen. Aber das kam dann so. Heute sind Bibliothekar:innen Alrounder. Ein bisschen Psychologen, Informationsvermittler und, was heute sehr wichtig ist, sie sollten IT-Kenntnisse besitzen.
Sie sind ja nicht nur Bibliothekschefin, sondern auch im Förderverein der Stadtbibliothek und in der Stefan-Heym-Gesellschaft aktiv. Bleiben Sie diesen Ehrenämtern treu?
Denen will ich auch weiterhin treu bleiben. Eigentlich wollte ich auch diese Verbindungen kappen, um nicht in Versuchung zu kommen, meiner Nachfolgerin in ihre Arbeit hineinzureden. Diesen Eindruck möchte ich auf keinen Fall erwecken. Aber man hat mich gebeten, dabei zu bleiben und ein bisschen mitzuwirken. Und so gebe ich mein bestes und schaue was passiert. (lacht)
Besonders weil wir mit dem Stefan-Heym-Forum einen echten Schatz im TIETZ haben.
Ja, das stimmt. Die Stefan-Heym-Gesellschaft und besonders die Vorsitzende Frau Dr. Uhlig haben mit der Stadt hier eine grandiose Arbeit vollbracht. Das Werk Stefan Heyms gehört in seine Heimatstadt und nicht irgendwo in der Welt verstreut. Das hat viel Mühe gekostet. Jetzt müssen es die Chemnitzer:innen nur noch besuchen dürfen. Denn das war durch Corona leider noch nicht möglich.
Ist Chemnitz eine lesefreudige Stadt?
Gemessen an unseren Zahlen in der Bibliothek, kann ich die Frage mit ja beantworten. Wir haben sehr viele Ausleihen im Vergleich zu Bibliotheken in anderen Städten, wo diese abgenommen hat. Das liegt sicher an der hohen Aktualität des Medienbestandes.
Die neue Leiterin Corinna Meinel wird am 1. September 2021 ihre Arbeit aufnehmen. Was wünschen Sie Ihrer Nachfolgerin?
Dass die positive Entwicklung der Stadtbibliothek weiter fortschreiten kann und die Bedingungen dafür gegeben sind. Ich wünsche ihr, dass sie das Team der Stadtbibliothek genauso an ihrer Seite hat wie ich und dass der Ort Bibliothek weiter in das Bewusstsein der Chemnitzer:innen gelangt und sie die Möglichkeiten sehen, was hier geboten wird, als Lernort, als Podium für Gespräche, als ein Ort der Begegnung - und diese großartige Chance aktiv nutzen.
Stichwort Kulturhauptstadt: Wie haben Sie die Entscheidung aufgenommen?
Es freut mich, dass wir den Titel bekommen haben. Ich hoffe, dass es für viele Chemnitzer:innen ein Ziel ist nach vorn zu schauen und Lust und Begeisterung auf etwas zu haben. Wir haben ein unglaublich tolles Angebot an Kunst und Kultur in der Stadt. Ich habe aber das Gefühl, dass dies manchmal nicht so richtig wahrgenommen wird. Deshalb hoffe ich, dass dieser Titel viele Gäste in unsere Stadt bringt und die Chemnitzer:innen von ihnen mitgerissen werden. Wir als Stadtbibliothek sind dabei und werden uns aktiv am Prozess beteiligen.