„Für mich konnte es immer nicht schnell genug gehen“
Dr. Peter Seifert
In einer aufregenden Zeit lenkte Dr. Peter Seifert die Geschicke der Stadt. Von 1993, kurz nach der politischen Wende, bis 2006 war er Oberbürgermeister der drittgrößten Stadt Sachsens. Für seine Verdienste wurde er später u.a. mit der Sächsischen Verfassungsmedaille (2011), dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (2012) und mit der Chemnitzer Ehrenbürgerschaft (2016) ausgezeichnet. Am 27. Juli feiert er seinen 80. Geburtstag. Zeit für einen Rückblick.
Foto: Philipp Köhler
Im Mai 2000 eröffneten Sie in einem feierlichen Akt mit dem ehemaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Galerie Roter Turm im Herzen der Stadt. Ist Ihnen in diesem Moment, als Sie das Band durchgeschnitten haben, ein Stein vom Herzen gefallen? Denn wie man hört, stand die Finanzierung auf wackligen Beinen.
Ich habe damals gesagt, die Bebauung der Chemnitzer Innenstadt ist wie die Quadratur des Kreises. Denn potentielle Investoren waren bereits abgesprungen. Wir hatten das Dilemma, dass unmittelbar nach der Wende, fast schon währenddessen, außerhalb der Innenstadt sehr viel Einzelhandel entstanden war, beispielsweise in Röhrsdorf. Die Kaufkraft lag also außerhalb der Innenstadt. Deshalb wollte kein Investor, keine Handelskette beginnen, in der Innenstadt zu bauen. Alle haben aufeinander gewartet und gesagt, wenn einer anfängt, ziehen wir nach.
Die Galerie Roter Turm war die erste große Investition in der Innenstadt. Doch die Finanzierung durch den Investor Sachsenbau war nicht gesichert. Die GGG ist mit einem Kredit von 120 Mio. DM eingesprungen, das Vorhaben wurde zu Ende gebracht und die Galerie an einen Fonds verkauft.
Danach konnte ich zur Metro AG nach Köln fahren, zu der damals Kaufhof gehörte, und sagen, jetzt seid ihr dran. So kamen die Galeria Kaufhof und kurze Zeit später Peek und Cloppenburg dazu. Architekten waren die Weltstars Hans Kollhoff, Helmut Jahn und Christoph Ingenhoven.
Würden Sie es heute anders machen oder genauso?
Es musste etwas geschehen, um Urbanität in die Innenstadt zu bringen. Das hatte etwas mit Lebensqualität zu tun. Da waren riesige Brachflächen und das Rathaus konnte man einen Kilometer weit entfernt einsam stehen sehen. Ich habe immer gesagt, wenn wir die Industrie voranbringen, industrielle Investoren und Wissenschaftler nach Chemnitz holen wollen, brauchen wir Lebensqualität in der Stadt.
Natürlich gab es Diskussionen, ob wir so viel teure Kunst und Kultur in der Stadt brauchen. Die Meinung war häufig, Hauptsache wir haben Arbeitsplätze. Doch das gehört alles zusammen. Das war damals nicht jedem so bewusst.
In den 16 Jahren im Rathaus, davon 13 als Oberbürgermeister, gab es für Dr. Peter Seifert zwei Kerngebiete, die im Fokus standen. Die Innenstadtbebauung und der Erhalt bzw. die Wiederentwicklung der Industriekerne während und nach der Treuhandzeit. „Wir sind weder Leipzig noch Dresden. Wir sind keine Beamtenstadt, haben nicht diese große Messe oder einen Flughafen. Chemnitz war schon immer eine Stadt der Industrie. Diese Kerne mussten erhalten werden. Das war unsere einzige Chance. Und es ist uns gelungen“, so Seifert. In seiner Amtszeit wurden stadtprägende Gebäude gebaut. So erhielt Chemnitz als erste ostdeutsche Stadt eine Synagoge, das ehemalige Sparkassengebäude wurde zum Museum Gunzenhauser, die Messe und die Hartmannhalle gebaut, die Esche Villa und das Kulturkaufhaus TIETZ wurden saniert – alles Meilensteine der Stadtgeschichte. Doch für Peter Seifert zählen nicht nur die Bauwerke, sondern mehr noch die Chemnitzerinnen und Chemnitzer, die ihn gewählt haben und die Menschen, mit denen er zusammengearbeitet hat.
Worauf sind Sie am meisten stolz?
Ach, stolz bin ich auf meine unmittelbaren Mitarbeiter, die ich hatte. Das waren richtig gute Leute. Außerdem die Bürgermeister Frank Motzkus aus Düsseldorf und Ralf-Joachim Fischer aus Konstanz sowie der damalige GGG-Chef Peter Naujokat. Wir haben gemeinsam die Dinge in Chemnitz gestemmt. Damals gab es den Begriff der Viererbande: Motzkus, Fischer, Naujokat und Seifert. Alles, was mit Stadtentwicklung zu tun hatte, lief über unseren Tisch und einer stand für den anderen ein.
Rückblickend auf Ihre 13 Jahre Stadtoberhaupt: Gibt es etwas, was Sie nicht wieder so machen würden?
Das soll jetzt nicht überheblich klingen, aber nein, ich glaube, gravierende Fehler konnten wir vermeiden.
Peter Seifert war ein guter Leichtathlet, ein Sprinter. Auch den Fußballsport liebte er. Doch ein erfolgreicher Fußballer wurde er nicht. Er war immer schneller als der Ball. Deshalb blieb die Leichtathletik bis heute seine große Leidenschaft. Aber der Sport brachte ihm das wohl größte Ärgernis seiner Amtszeit ein. Er wollte die Leichtathletik-Europameisterschaft 2002 nach Chemnitz holen. Doch der Freistaat Sachsen spielte nicht mit. Und so fand die EM 2002 in München statt.
Eine verpasste Gelegenheit, die auch heute noch schmerzt?
Ja, das schmerzt immer noch. Denn wir hatten diese Europameisterschaft weitestgehend sicher. Kurt Biedenkopf, der damalige Sächsische Ministerpräsident, hatte zweifellos seine Stärken, aber die lagen leider nicht beim Sport. Dafür hatte er nichts übrig. Das hat ihn einfach nicht interessiert. Dabei war die Vergabe an Chemnitz eigentlich schon beschlossene Sache.
Ich hatte bereits die Finanzierung mit dem Innenministerium, damals noch in Bonn ansässig, geklärt. Es war eine Drittelfinanzierung. Das Stadion in Chemnitz sollte 100 Millionen DM kosten. Der Architekturentwurf von Kulka lag vor .Innerhalb des europäischen Leichtathletikverbandes war geklärt, dass Deutschland den Zuschlag für diese EM bekommt. Und innerhalb des deutschen Leichtathletikverbandes wiederum stand fest, wenn sich eine ostdeutsche Stadt bewirbt, dann sollte sie Ausrichter werden. Und wir waren der einzige ostdeutsche Bewerber.
1996 wurde die Europameisterschaft vom Deutschen Leichtathletikverband vergeben. Und Kurt Biedenkopf hat immer wieder, ob aus Ignoranz oder aus anderen Gründen, Bedenken geäußert. Er hat nie verstanden oder verstehen wollen, dass ein Baubeginn für das Stadion erst nach dem Zuschlag erfolgen wird. Ihm war angeblich die Gefahr zu groß, dass er Fördermittel zusagt, wir damit ein Stadion bauen und letztendlich die EM gar nicht bekommen. Das war einfach Unsinn. Auf jeden Fall hat er dann gesagt, der Freistaat Sachsen beteiligt sich nicht.
Bei der Sitzung des Deutschen Leichtathletikverbandes in Köln im Juni 1996 ist der Zuschlag dann endgültig erteilt worden. Man hat mich mit ungläubigen Blicken angeschaut, als ich sagte, dass wir zurückziehen müssen. München sprang dann ein.
Die Leichtathletik war und ist immer noch die Passion von Dr. Peter Seifert. Er gründete nach der Wende den Leichtathletikclub Chemnitz (LAC). Unter welchen Bedingungen die Läufer damals trainierten, zeigte Seifert bei einem Treffen in Chemnitz dem damaligen Präsidenten des Deutschen Leichtathletikverbandes Helmut Meyer. „Unsere 400-Meter-Läufer waren alle Weltklasse. 1987 wurde Thomas Schönlebe Weltmeister, bis heute einziger Europäer. Außerdem noch Rico Lieder und Jens Carlowitz, die alle die 400 Meter unter 45 Sekunden liefen. Ich wollte dem DLV-Präsidenten die Trainingsbedingungen im Sportforum zeigen, den sogenannten Schlauch. Das war eine 120 Meter lange aus Garagenteilen zusammengesetzte „Halle“, unbeheizt. Als er das gesehen hat, versprach er uns die zweite Leichtathletikhalle in Ostdeutschland, nach Erfurt. So ist es dann auch 1994 gekommen.“
Einer der Höhepunkte in Seiferts Amtszeit war der Empfang der Olympioniken, die 1996 von den Sommerspielen aus Atlanta heimkehrten und von tausenden Chemnitzerinnen und Chemnitzern in Empfang genommen wurden. Allen voran die Goldmedaillengewinner Jens Fiedler (Bahnrad), Lars Riedel und Ilke Wyludda (Diskus).
Es wird immer noch gemunkelt, dass Sie ein zügiger Autofahrer waren. Für eine Dienstreise nach Bonn hatte das OB-Sekretariat einen Fahrer bestellt. Auf der A 4 gab es viele Baustellen und Geschwindigkeitsbegrenzungen. Der Fahrer fuhr vorbildlich. In der Nähe von Erfurt musste er jedoch anhalten und auf den Beifahrersitz rücken. Ihnen ging es zu langsam. So wurde der Fahrer von Ihnen nach Bonn gefahren und wieder zurück. Wie viele Punkte hatten Sie in Flensburg?
Ich hatte welche (lacht). Ich musste auch mal vier Wochen laufen. Glücklicherweise hat das damals die Presse nicht mitgekriegt. Denn ein Vorbild ist man damit natürlich nicht.
Aber für mich konnte es immer nicht schnell genug gehen. Egal, ob beim Autofahren oder bei wichtigen Verwaltungsvorgängen. Geduld zu beweisen, ist mir oft sehr schwer gefallen. Ich habe viele Dinge auf meinen Schreibtisch gezogen. Die ersten Jahre als Oberbürgermeister hatte ich gefühlt eine 100-Stunde-Woche. Vor Mitternacht war ich nie Zuhause. Ich hatte eine Aufgabe übernommen, die unglaublich schwer war zu dieser Zeit. Die Investoren sind an Chemnitz vorbeigezogen, weil wir keinen Quadratmeter unbebaute Gewerbefläche anbieten konnten. 1993 hatten wir dann das erste Gewerbegebiet entwickelt, zwölf weitere folgten.
Ich erinnere mich an die Anfangszeit als OB: immer freitags hatte ich alle Ämter gemeinsam an einem Tisch, die mit Investitionsvorhaben befasst waren – also Liegenschaften, Rückübertragungsansprüche, Bauplanungen, Umwelt etc. Ich wollte nicht, dass die Themen von einem Amt zum nächsten wandern, sondern es musste schnell entschieden werden. Im Endeffekt hat es sich ausgezahlt, es war aber mühsam.
War es ein Vorteil, dass Sie kein Verwaltungsfachmann oder Jurist waren?
Ich empfand das zumindest nicht als Nachteil, aus einer anderen Richtung gekommen zu sein. Mir ist häufig von meinen westdeutschen Kollegen die Frage gestellt worden, wie ich als Diplom-Ingenieur den Oberbürgermeisterposten schaffe.
Wir waren es in der Industrie unter DDR-Bedingungen gewohnt, unter schwierigen Voraussetzungen Lösungen auf den Tisch zu bringen. Ich erachte es für den Job eines Oberbürgermeisters als Vorteil, wenn er vorher in der Wirtschaft war und nicht aus der Politik herausgewachsen ist. Chemnitz ist ohnehin eine Stadt der Ingenieure, Tüftler, Techniker. Das ist unsere Tradition.
Was haben Sie nach 2006, nachdem Sie das Rathaus verlassen hatten, bis heute gemacht? Was machen Sie jetzt?
Ich habe ganz bewusst nichts gemacht, was unmittelbar mit meiner Arbeit bis dahin zu tun hatte. Man muss aber schon wissen, was man mit seiner Zeit anfängt. Ich bin ein Mensch, der immer sinnvolle Aufgaben haben muss. Das ist bis heute so geblieben.
Ich habe mich sehr stark an der Hochschule engagiert. Ich war zwei Legislaturperioden, insgesamt zehn Jahre, bis Januar dieses Jahres, Hochschulratsvorsitzender der TU Chemnitz. Ich bin seit 2006 Vorsitzender des Fördervereins der TU Chemnitz. Ich habe mich sehr stark engagiert für den Aufbau einer Stiftung der TU Chemnitz. Alles ehrenamtlich. Die Uni liegt mir nach wie vor sehr am Herzen. Außerdem bin ich weiterhin Präsident beim LAC.
Es war in den vergangenen 15 Jahren nie langweilig. Außer das erste Mal in der Pandemiezeit, als ich oft aufgestanden bin und überlegt habe, was ich heute mache. Das ist schrecklich. Das ist mir bisher noch nie so ergangen. Der Tag war immer durchgeplant.
Und was haben Sie dann gemacht?
Mich um Haus und Hof gekümmert, Außerdem sind meine zwei Kinder mit Familie in Chemnitz. Ich habe vier Enkelkinder, die mir viel Freude machen. Das ist im Alter sehr wichtig.
Sie werden als Stratege beschrieben, der immer an die nächste Generation gedacht hat. Wie sehen Sie die Entwicklung von Chemnitz in den vergangenen 15 Jahren?
Wir haben uns ordentlich entwickelt. Wir sind auf vielen Gebieten in Wirtschaft und Wissenschaft hervorragend aufgestellt, was aber nicht immer wahrgenommen wird, beispielsweise bei der Entwicklung technischer Software, im Strukturleichtbau oder beim autonomen Fahren. Unsere Industriebetriebe sind moderne Betriebe mit hohen Exportanteilen. Wir haben eine gute Technische Universität. Das müssen wir aufrechterhalten und weiter entwickeln. Wir werden keine Stadt der Dienstleistungen sein.
Mein damaliger Leipziger Kollege Hinrich Lehmann-Grube hat auf das gesetzt, was Leipzig stark gemacht hat. Messe, Flughafen, Medien, Versicherungen, Banken – klassisches Dienstleistungsgewerbe. Er hat nicht wirklich auf die Industrie geschaut.
Wir hatten nur die eine Chance, vor allem auf die Industrie und das produzierende Gewerbe zu setzen. Das war meine feste Überzeugung. Mir haben nach der politischen Wende viele gesagt: Lass doch die Industrie ziehen. Das ist was von gestern. Doch weit gefehlt: Produzierendes Gewerbe ist der Garant für unseren Wohlstand in der Stadt. Gestern und auch heute noch. Deutschland braucht wieder mehr Wertschöpfung und eine stärkere Orientierung auf die Technikwissenschaften.
Wie feiern Sie Ihren 80. Geburtstag?
Ich fahre mit den Familien meiner beiden Kinder in die Nähe der Ostsee. Dort haben wir uns ein Ferienhaus gemietet.
Was wünschen Sie sich für Chemnitz bis 2025?
Es ist wirklich eine tolle Arbeit, die hier für das Projekt Kulturhauptstadt 2025 geleistet wurde. Ich gehe davon aus, dass man aus diesem Titel etwas macht. Wir haben nach wie vor ein Image-Problem. Das Image muss aufpoliert werden. Da ist Kultur unverzichtbar. Dazu gehört aber auch ein noch stärkeres Selbstbewusstsein der Chemnitzerinnen und Chemnitzer. Sie können auf das Erreichte wirklich stolz sein. Da haben wir noch ein bisschen Nachholbedarf.