Schiefertafeln sind die Tablets von damals

Birgit Raddatz & Kai-Uwe Hacker vom Schulmuseum Ebersdorf

Macher der Woche vom 2. Dezember 2022

Lederranzen, historische Schulbänke und technische Geräte: Der Besuch im Schulmuseum Ebersdorf ist eine Reise in die Vergangenheit. Möglich macht das ein Verein, dessen Mitglieder seit mehr als 30 Jahren das schulhistorische Erbe erhalten. Von dieser größtenteils ehrenamtlichen Arbeit erzählen die Vereinsvorsitzende Birgit Raddatz und ihr Stellvertreter Kai-Uwe Hacker.


Welches Konzept steckt hinter dem Schulmuseum Ebersdorf?

Kai-Uwe Hacker: Schule wie vor 100 Jahren. Die Viertklässler, die in Sachunterricht das Thema behandeln, führen wir durchs Museum, und ich halte 45 Minuten Unterricht. Wir reden darüber, wie die Kinder früher angezogen waren, wie die Ranzen ausgesehen haben, welche Schreibgeräte es gab. So wird z.B. auch die alte Brottasche mal umgehängt. Die Kinder denken dann mitunter, da kommt das Handy rein.

Woher haben Sie die vielen Exponate?

Raddatz: Anfangs war ein schulhistorischer Fundus durch die Arbeitsgemeinschaft Werken an der Ebersdorfer Schule vorhanden. Viele Schulen haben uns nach der Wende Materialien zur Verfügung gestellt, die nicht mehr benötigt wurden. Dabei hat uns auch das Schulamt unterstützt. Wir sind zum Teil umhergefahren, als Schulen geschlossen oder saniert wurden, und haben geholt, was wir tragen konnten. Rollbilder zum Beispiel. Was denken Sie, was für ein gruseliges Gefühl das war, als unter den Klassenzimmerfenstern Container standen und die lange so sorgsam gehüteten Lehrmittel zum Fenster hinausflogen.

Hacker: Oft melden sich auch heute noch Privatleute, etwa, wenn sie den Haushalt ihrer Eltern oder Großeltern auflösen. Die bringen Kartons und sagen oft nur: Nehmt, was ihr wollt.

Das Museum befindet sich im alten Rathaus von Ebersdorf, das am 20. Juni 1914 eingeweiht wurde. Doch schon 1919 wurde Ebersdorf nach Chemnitz eingemeindet. Das Gebäude war seither Ort für viele Institutionen: Ortschaftsrat, Dorfpolizist und nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem die LPG und die Mütterberatung, später die Sparkasse. Als der Hort der Ebersdorfer Schule aus dem Obergeschoss in die heutige Grundschule umzog, setzte sich der Verein dafür ein, die Räume nutzen zu dürfen. Im Jahr 2000 zog das Museum schließlich ein. Davor nutzte der Verein die alte Ebersdorfer Schule. Nach deren Schließung existierte das Schulmuseum auf Rädern, war zu Gast z.B. im Schlossbergmuseum.

Was kann der Besucher im Schulmuseum alles entdecken?

Hacker: Wir sind ein Museum zum Erleben und Begreifen. Das wichtigste Zimmer ist unser altes Klassenzimmer, die Schulstube. Einige der Bänke sind über 100 Jahre alt. Im kleinen Ebersdorfer Zimmer zeigen wir unter anderem alte Klassenfotos. Der zweitgrößte Raum ist das Fächerkabinett mit Exponaten etwa seit 1900. Dort erfährt der Besucher, welche Fächer es früher gab, wie Naturkunde, Hand- und Hausarbeiten, Leibeserziehung und Rechnen.

Raddatz: Dazu kommt der Raum für die Sonderausstellungen und zur Schule nach 1945 sowie der Veranstaltungsraum im Erdgeschoss, den wir zur Museumsnacht und für Beschäftigungsangebote nutzen. Oder für Schüler, die bei uns für ihren Geschichtsunterricht oder Belegarbeiten recherchieren.

Hacker: Und im Technikraum sind alle Geräte ausgestellt, die irgendwann einmal in einer Chemnitzer oder Karl-Marx-Städter Schule verwendet wurden. Bildwerfer, Polylux, Tonbandgeräte, ein Grammofon. Darunter Raritäten wie der Fernseher aus dem Clubraum der Ebersdorfer Schule von 1956.

Die Schulstube ist das Herzstück Ihres Museums?

Hacker: Auf jeden Fall. Die vierten Klassen haben in Sachkunde den Unterrichtsbaustein ‚Schule früher‘. Dafür ist die Schulstube wie geschaffen. Als außerschulischer Lernort arbeiten wir quasi für Schüler und Lehrkräfte.

Raddatz: Wir bieten lehrplanbegleitenden Unterricht an. Das ist unser Anspruch. Da würden wir uns mehr Wertschätzung der zuständigen Stellen wünschen.

Die Schulstube ist ausgestattet wie ein echtes Klassenzimmer. An der Tafel stehen die wichtigsten Schülerregeln in Sütterlin, auf den Holzbänken liegen Schiefertafeln. An der Wand hängt unter anderem eine Heimatkarte Ebersdorf von 1926, die ein Lehrer einst selbst zeichnete.

Was wird inhaltlich behandelt?

Hacker: Wir bauen auf dem Lehrplan auf, räumen aber auch mit Mythen auf. Zum Beispiel waren in unserer Region Eselskappen als Strafe nicht verbreitet. Das steht leider aber in vielen Schulbüchern so.

Raddatz: Ehrverletzende Strafen gab es aber trotzdem, wie die Strafbank oder das in der Ecke stehen. Ältere Leute erzählen uns, dass es das in den anderen Besatzungszonen bis weit nach 1945 gab. In der ehemaligen DDR war jede körperliche Züchtigung untersagt.

Wie behandeln Sie dieses schwierige Thema mit den Viertklässlern?

Hacker: Es ist fester Bestandteil des Unterrichts. Wir erklären die Funktionsweise des Rohrstocks und erläutern das sogenannte ‚Chemnitzer Regulativ‘, in dem unter anderem die Regeln der Anwendung des Rohrstocks für die Lehrer festgeschrieben waren. Der Lehrer durfte nicht einfach drauflos schlagen.

Raddatz: Zum Beispiel: „Bis zu sechs Mal mit einer Ruthe von der Stärke eines dicken Bleistifts, quer über die Finger“.

Hacker: Ich erkläre den Kindern auch – und das wissen viele nicht – dass es auch zuhause dem Vater erlaubt war, den Rohrstock zu verwenden. Wenn dieser abends rote Hände gesehen hat, hat er nicht lange nachgefragt und nochmal zugehauen.

Was interessiert die Kinder am meisten?

Hacker: Der Rohrstock. Oder die alten Schulranzen. Wir zeigen ihnen auch die Schönschreibhefte von Martha Reichel. Dieses Mädchen, das vor 112 Jahren ganz ordentlich in ihre Hefte geschrieben hat, war genauso alt wie die Kinder, die uns heute besuchen. Da staunen alle. Wir machen das so lustig wie möglich für die Kinder und so wissensreich wie nötig.

Raddatz: Viele Grundschullehrer sind dankbar, da man hier bei uns die Zeit besser nachempfinden kann als auf einem Bild. Das forschende Lernen rückt mehr in den Fokus.

Hacker: Ich gehe auch, wie der Lehrer damals, durch die Bankreihen und schaue auf saubere Fingernägel, saubere Ohren, sauberer Hals und geputzte Schuhe.

Raddatz: Die Kinder können sich oft nicht vorstellen, dass früher so viel auswendig gelernt werden musste und wie viel Wert auf Schönschreiben gelegt wurde. Die Grundfertigkeiten wurden viel intensiver eingeübt, nachlesen bei Google war nicht möglich.

Wie groß ist die Resonanz seitens der Schulen?

Hacker: Wir werden überrannt, sind bis Januar 2023 von Dienstag bis Freitag ausgebucht. Ein großes Lob für uns. Pro Schuljahr erleben allein mindestens 2000 Kinder hier unser Programm. Zunehmend kommen auch Kindergartengruppen. Zuhause erzählen die Kinder ihren Eltern von ihrem Besuch und stehen bald, teilweise mit Oma und Opa, wieder hier.

Raddatz: Manchmal treffen sich vier Generationen hier. Regelmäßig kommen Erinnerungen hoch. Unsere Räumlichkeiten vermieten wir ja auch für Klassentreffen und Jubiläen.

Hacker: Mitunter suchen wir aus unserem großen Fundus alte Schulbücher dieser Zeit heraus. Da kommen den alten Leutchen teilweise die Tränen. Wir verstehen uns auch als Heimatmuseum, denn wir bringen noch einmal das Erleben mehrerer Generationen zusammen.

Raddatz: Wir besitzen einige Haupt- und Zensurbücher, haben mit deren Hilfe auch schon Zeugnisse nachgeschrieben für Leute, die ausgebombt wurden. Ich weiß noch, Oma Rosel hat zum 100. Geburtstag ihr Zeugnis nochmal bekommen. Da friert es mich heute noch, wenn ich daran denke.

Elf Mitglieder hat der Verein. Eine kleine Truppe. Wie schaffen Sie das alles?

Raddatz: Mit viel Engagement in der Freizeit und Herzblut. Jeder packt an, so gut er kann.

Hacker: Wir managen das, aber es ist im Grenzbereich. Was kaputtgeht, reparieren wir selbst. Ehrenamt bedeutet viel Arbeit, die keiner sieht. Doch wir identifizieren uns damit.

Raddatz: Es ist viel Administratives, was mich auch mal nervt. Jedes Jahr der Kampf um eine ausgeglichene Finanzierung, um Fördermittel. Doch wenn man eine Gruppe von Kindern hier hat, schaut man nicht auf die Zeit. Das ist der Moment, in dem sich alles lohnt.

Hacker: Man muss positiv verrückt sein. Anfangs sind die Kinder sehr aufgeregt. Nach fünf Minuten werden sie komplett andächtig. Die Kinnladen fallen nach unten, die Augen werden immer größer. Am Ende gibt es teilweise Applaus. Diese Begeisterung ist unbezahlbar.

Was an der Schule von früher ist aus Ihrer Sicht gut gewesen?

Hacker: Der Respekt vor den Erwachsenen.

Raddatz: Die professionelle Distanz. Ich bin seit 37 Jahren im Schuldienst. Ein Lehrer muss sich heute jeden Tag Herausforderungen stellen, die oft an die Belastungsgrenze gehen.

Hacker: Heute sind die Kinder medial überfrachtet. Bei uns wird zwar auch gewischt, aber höchstens über die Schiefertafel.

Wo sehen Sie Schule in 100 Jahren?

Raddatz: Ich hoffe, dass sich Eigenständigkeit und Professionalität wieder mehr im Schulsystem durchsetzen, die Achtung vor den Leistungen der Schulen und Lehrer wieder steigt. Kinder müssen stärker befähigt werden, selbst Wissen zu erlangen.

Der Stadtteil Ebersdorf feiert 2024 sein 700-jähriges Bestehen. Der Heimatverein Unser Ebersdorf e.V. trommelt bereits, um Akteure und Sponsoren zu finden. Kern soll ein Stadtteilfest voraussichtlich Anfang Juli sein. Das Schulmuseum Ebersdorf wird dabei ein Anlaufpunkt sein. Denn neben der Kirche ist es die einzige verbliebene kulturelle Einrichtung im Stadtteil. Wer mitmachen möchte, kann sich beim Heimatverein melden.

Was wünschen Sie sich für die Kulturhauptstadt 2025?

Raddatz: Dass nicht nur Projekte neu aus dem Boden gestampft werden, sondern auch darauf geschaut wird, was es schon alles in Chemnitz gibt. Ich kann Schule nicht neu erfinden, aber wir machen sie erlebbar. Deshalb wünschen wir uns, dass wir stärker wahrgenommen werden und unsere Bedeutung als Chemnitzer Institution gesehen wird: dass in Ebersdorf ein kleines, feines Museum existiert, das mit Unterstützung seitens der Kulturhauptstadtverantwortlichen 2025 ein Anlaufpunkt auch für internationale Besucher sein kann.

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