Chemnitzer Zeitzeugen: Marga Fritze

Ich wurde am 6. März 1928 in Chemnitz geboren, feierte also am 6. März 1945 meinen 17. Geburtstag.

Wir, meine Eltern und mein jüngerer Bruder Gerhard, wohnten gemeinsam mit meinen Großeltern väterlicherseits sowie einer weiteren, bei uns zur Miete wohnenden, dreiköpfigen Familie in einem Zwei-Familien-Haus jenseits des Städtischen Friedhofs in Bernsdorf. Mein Vati war zu dieser Zeit als Soldat in Frankreich.

Nach meiner Erinnerung hatte es am 5. März schon tagsüber einen kleineren Angriff gegeben. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass dabei das Haus von Baumeister Klammt (heutige Rosa-Luxemburg-Straße), mit dem meine Großeltern befreundet waren, getroffen wurde.

Am Abend dann wurde das Radioprogramm – das Radio lief eigentlich immer – plötzlich unterbrochen. Es ertönte das charakteristische Klopfzeichen, das die Warnmeldungen für Fliegerangriffe ankündigte. Wir hatten dieses Zeichen schön häufig vernommen und schließlich waren auch schon Bomben auf Chemnitz gefallen. In einem solchen Falle hieß es, schnell die mit den wichtigsten Papieren, mit Essen und Trinken bestückten Taschen nehmen und in den Keller gehen. Mehrfach allerdings war letztlich nicht Chemnitz das Ziel gewesen. Die Bomberflotten, deren schauerliches Brummen man hörte, flogen dann Ziele weiter im Osten an.

Diesmal kam es anders. Es muss zwischen 20 und 21 Uhr gewesen sein, als die Stimme aus dem Radio mitteilte: „Bomberverbände im Anflug auf Chemnitz“. Alle Hausbewohner, meine Mutter, mein Bruder, meine Großeltern und die zur Miete wohnende Frau mit ihrer kleinen Tochter (der Mann war im Krieg), gingen in den zentral gelegenen Kellerraum, in dem Sitzgelegenheiten bereitstanden. Ich kann nicht mehr sagen, wie viel Zeit zwischen der Radiomeldung und dem Beginn des Angriffs vergangen waren. Ich weiß nur noch, dass mein Großvater, damals 68 Jahre alt, noch einmal den Keller verließ und uns herausrief – und da sahen wir, wie die Stadt durch die von den Vorauskommandos gesetzten Leuchtzeichen, die sogenannten Christbäume, hell erleuchtet war. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, dass der Angriff diesmal Chemnitz galt.

Ich kann mich gut an das furchteinflößende Brummen der Fliegermotoren erinnern und an das merkwürdige Geräusch, das beim Abwurf der Bomben entstand. Es klang wie das Poltern beim Ausschütten eines Kartoffelsackes. Man saß eigentlich regungslos im Keller und wartete, wann es einschlagen würde. Wenn ich sage, dass man dabei ein mulmiges Gefühl hatte, ist dies eine Untertreibung. Man hört die Detonationen der Bomben und hofft, dass man verschont bleibt. Plötzlich gab es einen fürchtlichen Knall und eine Luftdruckwelle riss die Waschhaustüre aus der Verankerung, und ich, ich saß immer gegenüber der Waschhaustür, bekam sie an den Kopf. Trotzdem hatten wir an diesem Tag Glück gehabt. Dafür hatte es nur 100 Meter entfernt eine ganze Häuserzeile geradezu ausradiert.

An der Vorderfront unseres Hauses Richtung Westen hatten wir Fensterläden, die abends geschlossen waren. Die haben die Druckwellen der Explosionen abgehalten, sodass die Scheiben der Vorderfront ganz geblieben waren. Von den Scheiben an der Hinterfront des Hauses war keine mehr ganz. Sie waren alle nach innen zersprungen und meine Mutter hat Glassplitter selbst in den Matratzen gefunden. Die Fenster konnten wir erst Tage später vom Glaser auf der Bernsdorfer Straße reparieren lassen. Unser Haus selbst war nicht direkt getroffen worden; es hatte aber das gesamte Dach aus seiner Verankerung gerissen und etwas schief wieder aufgesetzt. Wie das später behoben wurde, weiß ich nicht mehr. Von den Decken war teilweise der Putz heruntergekommen – und meine Geburtstagstorte, die meine Mutter gebacken hatte und die, weil noch warm, während des Angriffs auf dem Küchentisch stand, war hinüber. Im Hof steckten noch brennende Stabbrandbomben und auch unser Gerüstschuppen, der alle unsere Leitern und Pfosten etc. beherrbergte (wir hatten ein Malergeschäft), war getroffen worden. Die Brände mussten gelöscht werden. Meinen Großvater, den Firmengründer, hat es nicht im Keller gehalten und mein Bruder, er war damals 14, musste helfen. Da hatte es aber noch keine Entwarnung gegeben. Ich weiß noch, wie meine Mutter, allerdings vergeblich, dem Großvater hinterherrief, dass doch das Kind nicht in den Hof gehen solle. Aber mein Bruder war jetzt sozusagen der zweite Mann in der Familie und musste mit zupacken.

Nach dem Angriff, es muss schon nach Mitternacht gewesen sein, kamen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, aus der Stadt und durchquerten den Städtischen Friedhof. Unser Haus befand sich praktisch gegenüber beziehungsweise etwas unterhalb des Friedhofsausgangs auf der Augsburger Straße. Es dauerte nicht lange und unser Haus war im Erdgeschoss von fremden Menschen bevölkert. Ich sehe noch wie vier, fünf Kinder, kleine und größere, auf unserem Sofa in der Küche saßen. Sie waren mit ihren Müttern gekommen, die ihre brennenden Häuser weiter stadtwärts verlassen mussten. In der Küche waren die Fenster noch ganz geblieben und meine Mutter versuchte als Erstes, im Ofen Feuer zu machen. Meine Großmutter sagte, wir müssten Tee kochen, die Kinden bräuchten etwas Warmes. Das Haus war dunkel; es gab lediglich Kerzen und Petroleumlampen. In den Zimmern der Hinterfront des Hauses versuchte mein Großvater die kaputten Fenster mit Decken zu verhängen. Das gelang nur höchst notdürftig. Es schneite jetzt, und die Temperaturen lagen unter Null. Ich weiß nicht mehr, wie wir die Nacht in all dem Chaos und dem Dreck verbrachten. Die Betten waren mit Glassplittern übersät. Am nächsten Morgen jedenfalls sind die Leute wieder gegangen. Ich weiß nicht wohin. Viele der ausgebombten Chemnitzer haben wohl Unterschlupf bei Verwandten auf dem Land gefunden.

Natürlich gab es weder Strom noch Gas noch Wasser. Aber wir hatten auf dem Grundstück unseres Hauses einen Brunnen. Soweit ich weiß, hatten alle oder zumindest viele der Häuser auf der Augsburger Straße noch Brunnen, nicht aber die umliegenden Häuser am Grünband sowie in der gesamten Gagfa-Siedlung. In den nächsten Tagen kamen die Menschen, um bei uns Wasser zu holen. Es bildete sich eine Schlange von zeitweise bestimmt mehr als 100 Metern. Die Leute standen geduldig mit ihren Eimern und warteten bis sie an der Reihe waren. Mitunter war der Brunnen dann leer und wir hatten selbst nichts mehr.

Erst Tage später konnten wir über die Reichenhainer Straße zur Vetterstraße gehen. Dort wohnte meine Großmutter mütterlicherseits. Bis dahin hatten wir keine Nachricht, ob sie überhaupt noch lebte. Noch immer gab es schwelende Brände; dunkle Rauchwolken erschwerten das Atmen; es lag ein beißender Geruch über der gesamten Stadt. Wir hatten nasse Tücher mit, die wir uns vor das Gesicht hielten. Groß aber war die Freude, als das Haus auf der Vetterstraße noch stand und wir die Großmutter, unverletzt geblieben, antrafen. Wir weinten alle.

In den Tagen nach dem Angriff wurden unzählige Tote auf Handwagen oder auch größeren Tafelwagen auf den Friedhof gebracht. Wir konnten dies von unserem Haus aus beobachten. Ich stand auch mehrfach an (bereits geschlossenen) Massengräbern und kann mich an die vielen Taschen und Handtaschen, an Bekleidungsstücke, Mützen, Hüte und Schuhe erinnern, die vor den Gräbern lagen.
 

Hier hat die Zeitzeugin ihre Geschichte erlebt:

Zeitzeugen-Broschüren

Der ewige März

Titelbild der Broschüre

Erinnerungen an eine Kindheit im Krieg


Die letzten Zeugen

Titelbild der Broschüre

Als das alte Chemnitz im Bombenhagel starb

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