Chemnitzer Zeitzeugen: Helga Polzer
Foto: Igor Pastierovic
"Kinder, Männer, Frauen waren erstickt. Sie lagen aufgereiht, da mussten wir vorbei, als wir rausgingen. Eine Frau trug einen grünen Pullover. Sie hatte den Mund aufgerissen und hielt den Arm hoch."
Helga Polzer war 10 Jahre alt im letzten Kriegs-März und lebte im Lutherviertel. Als Alarm kam, musste sie in die Kaßberg-Gänge. Dort war ein Luftschutzkeller. Nach den Angriffen am 5. März 1945 lief sie mit ihrer Mutter durch die brennende Stadt. Rauch, Flammen, verzweifelte Menschen, Leichen. Als sie nach Hause kamen, stand das Haus noch. Nur die Fenster fehlten.
Helga Polzer lernte als Viertklässlerin in der Rudolfschule. „Jungs und Mädchen waren getrennt. Mit gefalteten Händen folgten wir dem
Unterricht. Wenn man sich mal rumdrehte, da kamen dann die Oberlehrer Dietzel oder Gröner, die hatten die Abzeichen dran (Anm.: der NSDAP) und einen langen Rohrstock.“ Einmal hat sie selbst die Prügelstrafe gekriegt – auf die Hände, wegen Umdrehens. „Und reden durften wir nur, wenn wir gefragt wurden.“
Helga wohnte in der Feldstraße 31, der späteren Rembrandtstraße. Es waren nur Frauen im Mehrfamilienhaus, Vater Walter war im Krieg. „Als die Luftangriffe ab 1944 einsetzten, mussten wir Wasser bereitstellen im Keller. Das kontrollierte der Luftschutzwart. Im Nebenhaus wohnte die jüdische Familie Sternberg. Den Mann haben sie Anfang 1945 abgeholt. Die Frauen haben da nicht drüber gesprochen.“ Wieso
Herr Sternberg von den Nazis abgeholt wurde, konnte Helga Polzer erst später einordnen.
Im Februar 1945 wurde ihr Vater an der Front vermisst. Er sollte nicht mehr heimkommen. Ein letzter Brief erreichte Helga und Mutter Hildegard: „Friedland, den 22.1., Mein liebes Muttel, meine liebe Helga! Kurz ein paar Zeilen von mir … Ganz plötzlich sind wir gestern in Marsch gesetzt worden. Hoffen wir das Beste. Zu allem anderen brauche ich nichts zu sagen. Ihr habt ja Radio! Macht’s gut und bleibt gesund und seid herzlichst gegrüßt und geküsst von Eurem Vatel.“
Am 5. März der Großangriff. „Wir waren nachmittags bei der Tante am Falkeplatz zu Besuch. Dort gab es keine Schutzkeller in den Häusern, weil das Wasser der Chemnitz oft hoch stieg. Als Alarm kam, mussten wir in die Kaßberg-Gänge, die zu einem Luftschutzbunker ausgebaut worden waren. Da waren Bänke drin und Stühle.“ Tausende Menschen überstanden die Bombennacht in diesen langen Gängen. Helga Polzer: „Aber 27 Leute sind im vorderen Teil der Gänge erstickt, weil die Luft knapp wurde. Kinder, Männer, Frauen. Sie lagen aufgereiht, da mussten wir vorbei, als wir rausgingen. Eine Frau trug einen grünen Pullover. Sie hatte den Mund aufgerissen und reckte den Arm hoch.“ Am Falkeplatz waren die Häuser weg. Lastwagen luden Überlebende auf. „Wir wollten nach Hause, schauen, ob noch was zu retten war.“ Trümmer, Chaos. Schließlich kam Mama mit Helga am Schlossteich raus. „Dort sahen wir Feuerwehrleute, fragten sie, wie wir weiterkämen. Doch die waren aus Leipzig und kannten sich nicht aus.“ Weiter ging die Odyssee durch die brennende Stadt. Rauch, Flammen, verzweifelte Menschen. Leichen. „Wir kamen an der Zschopauer Straße raus. Ein Haus stand dort in Flammen. Dort drin saß ein toter Mann in einem Sessel.“
Als die beiden nach Hause kamen, stand das Haus noch! Vorderfront da, Hinterfront da, die Fenster fehlten. „Ein Nachbarhaus brannte drei Tage lang, da war Phosphor drin, der brannte sich von Etage durch Etage. Die Frauen haben mit den Händen an den Außenwänden gefühlt, ob es noch heiß war drin.“ Kurz vor Kriegsende beschossen die Amerikaner die Stadt mit Artillerie. „Da zischte sogar eine Granate durch unser Haus.“ Dann kam die Rote Armee. „Die Frauen versteckten sich, ich weiß nicht wo. Plötzlich standen zwei Russen in der Wohnung, ich saß allein auf dem Sofa. Ein Soldat schaute sich um, nahm das Foto da, wo ich mit meinen Eltern drauf war, guckte es an, stellte es hin und ging.“ Die Frauen kamen wieder raus. Nur das Fahrrad fehlte dann.
Helga Polzer wurde mit 15 konfirmiert. Später baute sie im VEB Fahrzeugelektrik Dynamos zusammen, lernte Steno und arbeitete später als Industriekauffrau. Nie wieder Krieg hatte es geheißen: „Jedem, der ein Gewehr anfasste, sollte die Hand abfaulen! Nach diesem Motto hab‘ ich gelebt. Die jungen Leute mussten aber später wieder zur Armee.“ Sie schaut ratlos auf den Boden.