Chemnitzer Zeitzeugen: Christian Richter
Zuerst fehlten die Väter und Ehemänner zu Hause. Das Leben verlief nach einem strengen Reglement. Mein erster Klassenlehrer trug Uniform und sprach von Helden an der Front. Das Heulen der Sirenen bei Luftalarm prägte unauslöschliche Ängste. Allein die Sirene auf dem Dach der Brühlschule war ein abscheuliches Bild beim Blick aus dem Fenster. Ich erinnere mich an einen Pfingstausflug nach Ebersdorf, das war 1944. Ein Pulk von Bombern hinterließ eine breite Spur von Kondensstreifen und überflog das nördliche Stadtgebiet. Immer häufiger heulten die Sirenen, mussten wir Menschen in die Keller oder Bunker flüchten. Die Angst wurde zum ständigen Begleiter. Und als eines Tages ein abgeschossenes deutsches Jagdflugzeug in das Bahnhofsgelände stürzte, war endgültig klar, dass die Lufthoheit den Briten und Amerikanern zu gehören schien. Für uns war der Krieg nun unausweichlich nah. Die Amis bombten tagsüber, die Briten flogen ihre Angriffe nachts. Damit man sein Hab und Gut im schlimmsten Fall von dem der Mitbewohner auseinander halten konnte, bekam jede Familie eine Kennnummer zugewiesen. Unsere Nummer weiß ich noch heute: 31/2926. Ich weiß auch, dass ich sie mit Fettkreide auf die Möbelrückseiten malen durfte.
Der 5. März 1945 brachte das Chaos. Frischer Schnee war am Abend gefallen. Spätestens als es hieß „Die Engländer setzten Christbäume!“ wussten wir, was kommen konnte. Und es brach herein … In einer Angriffspause wurde das Mobiliar auf die Straße geschleppt. Brandbomben hatten das Hinterhaus getroffen, und im Vorderhaus steckte eine im Löschsandkasten des Dachbodens – mutige Männer beförderten sie ins Freie. Der Bäcker Martin drängte zudem die Männer, wenigstens das Mehl aus dem brennenden Hintergebäude zu retten. In diesem Chaos hatten mein Bruder und ich es geschafft, unser Spielzeug aus der Wohnung im dritten Stock zu holen. Eine kleine flache Kiste aus Zinkblech, als Munitionsbehälter hatte sie ausgedient, beinhaltete mein Hab und Gut. Dann kam die zweite Angriffswelle. Wir gingen wieder in die Luftschutzräume. Den Brandbomben folgten nun Sprengbomben und Luftminen. Ein Bersten und Krachen erschütterte die Luft. Die Kellertür kam geflogen. Wie versteinert saßen alle. Entwarnung kam keine in dieser Nacht. Sie wäre ohnehin ein Hohn auf die lichterloh brennende Stadt gewesen.
Wir gehörten zu den Glücklicheren. Wir hatten sogar noch ein Dach über dem Kopf. Die Häuserzeile war heil geblieben, aber dahinter sah es wüst aus. Die Aktienspinnerei brannte, das Opernhaus war zur Ruine gebombt, beißender Brandgeruch hielt sich tagelang in der Stadt. Großmutter war in der Frauenstraße ausgebombt und wohnte bei uns. Von nun an durften wir das Haus allein nicht mehr verlassen. Zeitweise wurde die Kartoffelhorte im Kohlekeller für uns Kinder zum Nachtquartier. Den quälenden Bombennächten folgte der Artilleriebeschuss auf die längst schutzlos gewordene Stadt. Die Gefahr war gegenwärtig ohne Unterbrechung.
Ich kann heute nicht mehr sagen, wie ich das alles aufgenommen habe, es war das Bild einer total und schlagartig veränderten Welt. Welch unendlicher Verlust und wie viel Schmerz daran gebunden waren, das kann nur jemand ermessen, der dieses gruslige Geschehen miterleben musste. Es hat unser Leben geprägt.