Nischel Jubiläum: Weggefährten erinnern sich
"Das Für und Wider des Monuments"
Veronika Leonhardt, Gästeführerin
Veronika Leonhardt ist seit 2008 Gästeführerin in Chemnitz. Bei einer Tour, die sie gemeinsam mit einem Kollegen bestreitet, treten die beiden als Karl Marx und seine Frau Jenny auf. Wohin diese Touren führen und welche Meinung Tourist:innen vom Karl-Marx-Monument haben, erzählt sie im Interview.
Wie laufen die Führungen als Jenny Marx ab?
Mein Gästeführerkollege Wulf Lakemeier und ich treffen uns am Karl-Marx-Monument und dort erzählen wir natürlich den Gästen erst einmal die gesamten Hintergründe: Wie ist das Monument entstanden und in welchem Zeitraum mit welchen Hindernissen? Und auch, welche Ideen es nach der Wende für das Monument gegeben hat. Dann gehen wir auf der Brückenstraße in Richtung Bahnhofstraße,
dort findet man die Lob-Gedichte von Bertolt Brecht. Unter anderem steht dort auch ein Relief, auf dem Marx erscheint, dort gibt es nochmal entsprechende Ausführungen. Zum Abschluss geht es in den Park der Opfer des Faschismus, wo dieses erste, gemeinsame, von Walter Howard geschaffene Denkmal von Marx und Engels vor dem Agricola-Gymnasium steht. In der Regel benötigen wir etwa
90 Minuten für die Tour.
Sie tragen beide ein Kostüm dabei?
Ja, wir sind beide im Kostüm und mein Gästeführerkollege Herr Lakemeier hat auch ein sehr authentisches Antlitz, also er ähnelt Karl Marx sehr, deswegen blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich an diesen Kollegen zu wenden und ihn zu einer gemeinsamen Zusammenarbeit aufzufordern. Er hat naturweißes Haar, trägt dann einen schwarzen Zylinder und einen schwarzen Mantel, schwarze Hosen. Und ich habe ein Kostüm, was so im 19. Jahrhundert in England üblich gewesen ist: Langer Rock, ein dunkles Jäckchen und ein kleiner Hut.
Was hat Sie dazu inspiriert, diese Führungen anzubieten?
Das ist eigentlich eine längere Geschichte: Als ich begonnen habe, hier als Gästeführerin zu arbeiten, habe ich gleichzeitig eine Tätigkeit in der Tourist-Information aufgenommen und meine Idee war es – nachdem es lange Diskussionen gegeben hat zum Für und Wider des Karl-Marx-Monuments – man müsse doch irgendwie ein Souvenir schaffen, weil die Nachfragen nach einem Souvenir mit dem Antlitz oder mit dem Namen von Karl Marx immer mehr zugenommen haben. Und dann kam der 200. Geburtstag von Karl Marx und es gab eine große Veranstaltung am 5. Mai 2018. Da bin ich auf meinen Kollegen zugegangen und habe gesagt, wir könnten an diesem Tag Führungen anbieten und damit ist die Idee geboren worden, immer in Abständen Führungen zum Thema Karl Marx beziehungsweise zum Karl-Marx-Monument anzubieten.
Wie oft konnten Sie die Tour schon durchführen?
Also ich schätze, wir haben zehn bis 15 Touren gemacht. Das sind keine Touren, die ich öfter anbiete, sondern wirklich zu bestimmten Anlässen. Und wenn Gäste nachfragen und speziell eine solche Tour wünschen, dann führen wir sie natürlich auch durch.
Warum bieten Sie verschiedene Touren zum Thema Karl Marx(-Monument) an?
Es gibt eine etwas lustigere Tour, die ist mit Fragen gespickt und die Gäste werden aktiv in die Führung einbezogen. Es ist also nicht ganz ernstzunehmen und deswegen ist es eine besondere Tour. Das dreht sich um die ganze Thematik »der Nischel von Karl-Marx-Stadt« oder »die Stadt mit Köpfchen«, also humorvoll und mit Informationen angereichert.
Können Sie eine von den Fragen verraten?
Eine davon war zum Beispiel »Können Sie sich vorstellen, warum Jenny von Westphalen von Karl Marx eine Reitpeitsche geschenkt bekommen hat?« Die Antwort gebe ich Ihnen vielleicht später (lacht).
Welches Wissen zum Karl-Marx-Monument geben Sie den Teilnehmer:innen bei den Führungen durch die Innenstadt mit auf den Weg?
Die grundlegenden Fakten und Informationen: Es ist am 9. Oktober 1971 feierlich eingeweiht worden, der Kopf ist 7,10 Meter hoch – selbst nachgemessen habe ich das noch nicht, ich habe aber vor, das wirklich mal zu kontrollieren (lacht). Der Sockel ist 4,50 Meter hoch und Bronze-Einzelteile sind es insgesamt 95, aus denen das gesamte Monument zusammengesetzt worden ist – übrigens von der hiesigen Firma VEB Germania. Und der Kopf wiegt im wahrsten Sinne des Wortes schwer, nämlich 40 Tonnen.
Zum Für und Wider des Monuments: Welche Argumente hören Sie von den Gästen? Wie stehen die Einheimischen zum Monument?
Das Gros sagt, das Marx-Monument steht 50 Jahre in der Stadt und so 95, 96 oder auch mehr Prozent sind für den Erhalt des Marx-Monumentes. Und es gibt auch ganz gerechtfertigt die Meinung, dass der Marx schon einmal missbraucht worden ist von einer Gesellschaft – und er kann eigentlich weg. Aber wie gesagt, dass Gros ist für den Erhalt und deswegen denke ich, steht er hier immer noch, sonst wäre er schon lange verschwunden. Übrigens gab es auch vor der Eröffnung ein Für und Wider, also man war gar nicht so einhellig der Meinung, dass diese Form der Porträtbüste das Ideale ist. Die meisten der Entwürfe, die der sowjetische Bildhauer
Lew Kerbel erarbeitet hat, sind Ganzkörperentwürfe gewesen und nur ein einziger war dieser Entwurf einer Porträtbüste. Der Künstler
hat dann auch selbst ein Modell aus Pappe und Holz angefertigt und hat das in entsprechendem Abstand vor dem Haus der Industrie aufgestellt, um zu sehen, wie das wirkt, und er selbst hat dann zu sich gesagt: »Das kann ich so der Stadt nicht anbieten, das passt einfach nicht.« Dann hat er für sich entschieden, dass er Karl Marx auf den Kopf reduziert, weil er der Meinung war, der Kopf reiche aus, dort ist das ganze Wissen entsprungen. Als er das hier den entsprechenden Staats- und Parteiorganen vorgestellt hat, gingen die Reaktionen bis zur Entrüstung.
Wissen Sie, welche Meinungen die bildenden Künstler:innen hier in Chemnitz hatten?
Die konkreten Meinungen kenne ich nicht, aber es ging generell um die Ablehnung des Entwurfes als Büste. Man wollte eine Ganzkörperskulptur. Lew Kerbel hat das ganz pragmatisch gesehen, er hat sich gesagt: »Also wenn ich als Betrachter vor dieser Skulptur stehe, dann schaue ich auf die Füße und das ergibt keinen Sinn.« Man war auch bis zur Enthüllung am Ende noch skeptisch, ob es so wirkt und dann gab es bei der Enthüllung noch ein paar Probleme diese weiße Plane herunterzuziehen, aber als das dann gefallen ist, waren alle erleichtert und vom Entwurf überzeugt.
Wissen Sie, was damals die Chemnitzer:innen zu dem Monument gesagt haben?
Man hat damals sowieso die Bevölkerung nicht gefragt, sowohl was die Namensgebung betraf, als auch, was das Monument betraf. Ich denke, hinter vorgehaltener Hand gab es natürlich Diskussionen. Ich würde es mal so einordnen: Man hat gewusst, man kann nichts dagegen tun und hat sich damit abgefunden und im Volksmund war das dann eben der »Nischel« und niemand hatte eigentlich auch wirklich damit Probleme. Deswegen hat man auch hinterher nach ‘89 die Entscheidung getroffen, der steht jetzt hier seit Jahren, die Stadt hieß bis zum damaligen Zeitpunkt Karl-Marx- Stadt und man hat sich dann arrangiert. Jugendliche, die mal befragt wurden, was sie von diesem Kopf halten, haben gesagt – obwohl sie ja mit dieser Entstehungsgeschichte gar nichts zu tun haben – »der Nischel gehört irgendwie zur Stadt und wenn man den wegnehmen würde, dann würde in der Stadt etwas fehlen« und das fand ich interessant.
Wie beliebt ist das Monument bei Tourist:innen?
Also jede:r, der in die Tourist-Information hereinkommt und sich beraten lässt, stellt als erstes die Frage »Gibt’s den Nischel noch?« und wenn wir sagen: »Natürlich gibt’s den noch«, kommt »Wo ist denn der? Da muss ich hin!«. Ich wage behaupten zu können, dass das mindestens jede:r zweite ist. Das Monument hat schon einen Stellenwert. Nicht nur in der Stadt, nicht nur bei den Chemnitzer:innen, sondern auch, was den Tourismus betrifft.
Hat sich die Meinung zum Monument mit den Jahren verändert?
Sie hat sich beruhigt. Man diskutiert nicht mehr, ob oder ob nicht, richtig oder falsch. Man hat es gewissermaßen in der Stadt aufgenommen und sich nicht nur damit abgefunden, sondern auch ihn akzeptiert. Aber das Gros ist für die Beibehaltung und es gab viele Ideen, es zu verleihen, verschenken, verkaufen, verbuddeln, einschmelzen, und so weiter – nur verhüllt haben wir ihn einmal und das war eine ganz coole Aktion seitens der Neuen Sächsischen Galerie.
Was denken Sie über das Karl-Marx-Monument?
Man sollte das so belassen, wie es ist und ich wünschte mir, dass das Umfeld noch stärker gestaltet wird, ästhetischer gestaltet wird. Ich könnte mir vorstellen, das Gebäude hinter dem Marx-Monument zu einem Hotel umzufunktionieren und im Erdgeschoss zum Beispiel ein Philosophen-Café einzurichten. Jetzt nicht nur mit dem Gedanke »Marx«, sondern auch Hegel, Feuerbach und so weiter. Und da vielleicht sogar auch eine kleine Bibliothek einzurichten, eine kleine Ausstellung. Man hat dann immer den Bezug zur Stadt und natürlich auch zum Karl-Marx-Monument. Das wäre so mein Traum für die Kulturhauptstadt 2025.
Haben Sie Anekdoten zum Karl-Marx-Monument, die Sie erzählen?
Eine Anekdote nicht, aber ich erzähle den Gästen gerne von der Verhüllungsaktion der Neuen Sächsischen Galerie. Da hatten die Besucher die Möglichkeit, ein Gerüst zu betreten, um den Marx mal zu umgehen. Da hat man wirklich die einzigartige und einzige Möglichkeit gehabt, das wehende Haar von hinten zu sehen. Das war eine ganz interessante Erfahrung wirklich einmal dem Marx auf Augenhöhe zu begegnen. Damals hatte Mathias Lindner von der NSG gewollt, dass die Besucher: innen »Das Kapital« mitbringen und alle kamen wirklich mit diesem Buch, aber keiner hat es dagelassen. Vielleicht an dieser Stelle auch die Antwort auf die Frage, warum Jenny Marx von Karl Marx eine Reitpeitsche geschenkt bekommen hat: Seiner Zeit lebten die beiden in Paris und obwohl es der Familie natürlich immer schlecht ging, weil er ja keine feste Arbeit hatte, so hatte man doch das Bedürfnis, in Paris ein bisschen in der Oberschicht mitzuschwingen. So ist sie also dann mit dem Geschenk von Karl Marx – mit der Reitpeitsche – durch Paris geschlendert, um zu zeigen, dass sie auch Reitpferde in ihrem Stall stehen hat.
War das so?
Nein.