Chemnitz hat eine beispiellose Friedenskultur entwickelt

Gerald Richter

Macher der Woche vom 4. März 2015

Zum Chemnitzer Friedenstag werden seit 2012 Friedensbanner von Chemnitzer Kindern und Jugendlichen gestaltet, die rund um den 5. März mit Friedensbotschaften auf diesen besonderen Tag aufmerksam machen. Vor zwei Jahren hingen zum ersten Mal diese Banner und Plakate an der Fassade des Chemnitzer Rathauses und an der gegenüber liegenden Galerie Roter Turm. Ins Leben gerufen hat die Plakataktion die Bürgerinitiative Aktion C und wird seitdem von Gerald Richter intensiv betreut. Er ist seit 2012 als Mitglied in der  AG Chemnitzer Friedenstag in die Gesamtkoordination des Friedenstages eingebunden. Kurz vor dem 5. März läuft er mit Plakaten, Flyern und Bannern unter dem Arm von Termin zu Termin. Warum er sich für den Friedenstag engagiert, fragten wir ihn als unseren Macher der Woche.


Was soll der Chemnitzer Friedenstag bewirken?
Gerald Richter:
Der 5. März ist für mich ein ganz wichtiger Tag. Er ist der Schwerpunkt der Friedensarbeit im ganzen Jahr. Die AG Chemnitzer Friedenstag bereitet diesen Tag vor und will durch Vernetzung eine breite Vielfalt und große Akzeptanz erreichen. Friedensarbeit ist aber nicht mit einem Tag getan. Wir wollen eine friedvolle Stadt das ganze Jahr über. Wir wollen den Gedanken des Friedenstages an alle Menschen herantragen, an alle Generationen, an alle, denen das Wohl und die Zukunft unserer Stadt am Herzen liegen.

Die Arbeitsgruppe Chemnitzer Friedenstag setzt seit 12 Jahren Friedensimpulse in Chemnitz. Am 16. Januar 2002 brachten der inzwischen verstorbene Pfarrer Hans-Jochen Vogel und die Sängerin Sabine Kühnrich einen Aufruf zu einem Chemnitzer Friedenstag in die Öffentlichkeit, der von namhaften Chemnitzern unterschrieben wurde. Gemeinsam mit Pfarrer Stephan Brenner gründeten sie die Arbeitsgruppe Chemnitzer Friedenstag, zu der mittlerweile auch Hartwig Albiro (ehem. Schauspieldirektor), Christoph Magirius (Pfarrer i.R.; Ehrenbürger der Stadt Chemnitz),  Dr. Thomas Schuler (ehem. Direktor des Schlossbergmuseums) und Heike Steege, die in der Stadt für Migration und Integration zuständig ist, zählen. Seit 2012 gehören Gerald Richter und seine Frau Sylvia Eichner dazu.

Während die AG Chemnitzer Friedenstag Netzwerkarbeit für den Friedenstag macht, beschäftigt sich Aktion C mit einem konkreten Projekt: den Friedensbannern am Rathaus. Woher kam die Idee?
Nach dem desaströsem Neonazi-Aufmarsch am 05.03.2011 wollten wir, ein paar Freunde, für Chemnitz ein anderes Zeichen setzen. Wir haben überlegt, wie die Stadt in ihrem Erscheinungsbild sich ändern kann. Wir wollten mit Kindergärten und Schulen arbeiten, um die Menschen an die Thematik und an eine Friedenskultur heranzuführen. Das ist uns schon im ersten Jahr gelungen: 2012 war die erste Friedensgalerie auf dem Neumarkt schon 200 Meter lang. 2013 haben wir dann angefangen, senkrechte Banner zu gestalten, weil diese an Gebäuden wirksamer und ausdrucksstärker sind. Mit den 50 beteiligten Einrichtungen wurden über 400 Plakatmeter gestaltet. Danach sind wir mit zwei Workshops 2013 und 2014 von der Breite in die Tiefe gegangen, wobei sich die Plakataktion zum Kunstprojekt entwickelt hat. Das soll kein Besser oder Schlechter zum Ausdruck bringen. Für uns kommt es auf den Prozess der Ideenfindung und Umsetzung an, das fertige Plakat ist ein zusätzliches Ergebnis. Nach wie vor erhalten Kindergärten und Schulen von uns Material zur Eigenfertigung und wir garantieren, dass jedes Werk auch in der Stadt gezeigt wird. 2015 haben wir die Marke von 1000 Metern an gestalteten Plakaten überschritten. Das hätten wir 2011 nicht einmal ansatzweise für möglich gehalten.

Klingt so, als würden sich die jungen Leute für das Thema Frieden interessieren?
Ja, zumindest gibt es viele, die bei dem Projekt mitmachen wollen. Eine Lehrerin sagte mir neulich: „Gerald, hör bitte nicht auf, du glaubst nicht, wie viele Kinder du schon glücklich gemacht hast.“ Was will ich mehr, das ist ein guter Lohn für die viele Mühe. Ich bin überzeugt, die Engagierten von heute sind die Macher von Morgen. Schule kann Wissen vermitteln, bei unseren Aktionen lernen junge Menschen, ihren Blick auf unsere Stadt und die Welt zu richten und wie man durch eigenes Mittun etwas verändern kann. Wir bieten jungen Menschen eine Bühne, auf der sie sich ausprobieren und bewähren können.
Als Aktion C haben wir neben unserem Beruf nur sehr begrenzte zeitliche Möglichkeiten, aber wir können Ideen liefern und haben dabei oft nur offene Türen vorgefunden. Wir haben sehr engagierte Schülersprecher in der Stadt, die eigene Projekte entwickeln. 2015 haben wir am 5. März drei Straßentheaterprojekte: Ein Theaterprojekt von Schülern aus Usti nad Labem mit Schülern der Montessori-Schule „Stell dir vor, es ist Krieg“ ab 16:00 Uhr, ein Straßentheater in Begleitung des Täterspuren-Rundganges und die Performance in der Kundgebung ab 18:00 Uhr.

Welche Arbeit steckt hinter der Vorbereitung zum Friedenstag?
Dieses Jahr sind über 30 Plakate neu entstanden. Für ein Banner von 7 Meter Länge sind 100 bis 200 Stunden nötig, dazu reicht die Projektwoche oft nicht aus. In der Montessori-Schule wurde in den Herbstferien und in der ersten Woche des neuen Schulhalbjahres weiter gemalt. Viele Schüler und Schülerinnen dürfen dort das ganze Jahr über malen, wenn die Schularbeiten erledigt sind. Ich nehme mir eine Woche Urlaub in den Herbstferien und mache einen Workshop mit Kindern und Jugendlichen. Das Banner ist das eine. Die Arbeit daran ist das Entscheidende. Wichtig ist, dass Kinder oder Jugendliche sich mit dem Thema Frieden auseinandersetzen und das, was sie gedanklich erreichen, voreinander aussprechen und konzeptionell zusammenfassen. Auch das Einigen auf ein Motiv und die Gestaltung des Banners in der Gruppe ist an sich schon ein Friedensprozess. Das „Miteinander reden“ – darauf kommt es uns an. Das ist Friedensarbeit. Wenn ein schönes Produkt dabei rauskommt, umso besser.

Und was nehmen die jungen Menschen mit?
Wer in so einer Projektwoche mitgearbeitet hat, das eigene Banner an der Rathausfassade sieht und es auf dem Podium vor tausenden Leuten erklärt, ist unheimlich stolz auf seine Leistung. Da findet ein richtiger Reifungsprozess statt. Da kann man richtig zugucken, wie die jungen Leute sich in einem halben Jahr verändern.

Aus einer kleinen Idee ist eigentlich ein großes Projekt geworden. Macht Sie das stolz?
Der Friedenstag ist von Jahr zu Jahr gewachsen. Viele Veranstaltungen sind dazu gekommen, wie die Konzerte im Rathausfoyer oder der Täterspuren-Rundgang. Dieses Jahr kommt der Flashmob-Musik-Unterricht der Musikschule an mindestens 6 Orten im Stadtzentrum dazu. Es ist mehr und vielfältiger geworden. Und das ist auch der Sinn. Ich spreche von einer Friedenskultur, die sich hier in Chemnitz entwickelt hat. Es ist wichtig, dass wir überhaupt einen Friedenstag haben. In Dresden ist es über viele Jahre nicht gelungen, den 13. Februar zu einem Friedenstag zu entwickeln. Dort ist die Zerstörung der Stadt über die Jahre instrumentalisiert worden. In Chemnitz haben wir neben dem Gedenken an die Bombennacht eine Friedensarbeit mit Blick in die Zukunft entwickelt. Wir haben außerdem den Friedenspreis, davon träumen andere Städte. Der Friedenspreis würdigt Aktivitäten von Gruppen, die sich für den Frieden in der Stadt eingesetzt haben. Ich staune immer wieder, wie viele Friedensgruppen und gute Initiativen wir haben. Aber es sind oft kleine Gruppen, die nur wenige kennen. Über Gutes redet es sich nicht so leicht. Diese Gruppen bekommen nicht so starke mediale Aufmerksamkeit. Deshalb ist es wichtig, dass der Friedenspreis die Initiativen ins Rampenlicht holt. Es soll ein Ansporn sein, sich weiterhin einzusetzen.

Am 5. März laden am Chemnitzer Freidenstag verschiedene Aktionen zum Mitmachen, Nachdenken und Anschauen auf den Neumarkt ein. Es öffnet wieder das Friedenskreuz auf dem Neumarkt und zeigt im Inneren Videos über zerstörte Städte des Zweiten Weltkrieges. Friedenswünsche werden gesammelt. Ausstellungstafeln klären über den Neofaschismus in Deutschland auf. Ab 18 Uhr  wird der Neumarkt unter dem Martin Luther King Zitat „I have a dream – Ich habe einen Traum“ stehen. Jugendliche werden in einer Theaterperformance die Flüchtlingsproblematik beleuchten. Die bisherigen Friedenspreisträger und Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig werden ihre Gedanken zum 5. März einfließen lassen. Musikalisch umrahmt wird das Programm von dem Syrischen Musiker Mai Alkurdi (Querflöte) und Youssef Bash (Gitarre). Aller weitere Programminformationen unter www.chemnitz.de/friedenstag und www.chemnitzer-friedenstag.org

Auch Demonstrationen gehören mit zum Friedenstag dazu. Stört Sie das?
Als Aktion C haben wir einige Kundgebungen und Demonstrationen selbst angemeldet. Wir können unsere Stadt, unsere Straßen und Plätze nicht Menschen überlassen, die beispielsweise gegen Ausländer hetzen. Es gibt keine Toleranz gegenüber Intoleranz. Uns geht es darum, Ideen für etwas und miteinander umzusetzen. Wir wollen die Menschen von der Basis erreichen. Menschen wie du und ich. Das muss nicht perfekt sein, aber von Herzen kommen und engagiert sein. Wir wollen Zivilcourage fördern und den Menschen Mut machen, sich auch was zu trauen. Es gibt in der Friedensarbeit kein Besser oder Schlechter. Wer sich dafür einsetzt, egal ob er Texte spricht, ein Plakat malt, eine Rede hält oder an einer Demonstration teilnimmt - das sind alles Ausdrucksformen, die mehr oder weniger Mut brauchen. Wo sich der eine traut, was der andere sich nicht traut, und der aber etwas kann, was der andere nicht kann. Wo sich Menschen in ihrer Vielfältigkeit in unserer Stadt einbringen und ergänzen können.

Wie sieht die Friedensarbeit in Chemnitz nach dem Friedenstag aus?
Schon jetzt gibt es einige Banner, die nicht fertig geworden sind. Nach dem 5. März ist vor dem 5. März, es geht ohne Unterbrechung weiter. Die ersten Banner für 2016 sind also schon jetzt in Arbeit. Die Themen Krieg, Flucht und Asyl werden uns leider weiter begleiten. 2016 wird Tschernobyl einen zusätzlichen Schwerpunkt bilden. Wir machen mit Aktion C Bildungsarbeit, haben Vorträge im Tietz organisiert und Projekttage in Schulen gehalten. Wir engagieren uns für Asylbewerber, wir wollen die Menschen guten Willens zueinander bringen. Wir sind dabei, mit anderen Gruppen gemeinsame Projekte zu entwickeln.

Aktuell finden zahlreiche Demonstrationen und Gegendemonstrationen zum Thema Asyl statt. Was bedeutet das für die Friedensarbeit?
Seit Jahren haben wir am 5. März von Neonazis organisierte sogenannte Trauermärsche in unserer Stadt. Da kann man eine große Gegendemonstration auf die Beine bringen. Diese kann auch die Kraft besitzen, eine Blockade zu entwickeln. Mit „Chemnitz wehrt sich“ und CEGIDA haben wir jetzt fremdenfeindliche Kundgebungen und Demonstrationen im Wochentakt. Ich kann nicht jede Woche an der Straße stehen und ich denke, wir müssen auch nicht immer auf die Rechten reagieren. Es ist wichtig, Grenzen aufzusetzen und zu zeigen, was die Bürgerschaft hier will. Der 5. März ist für mich das Zeichen, das sich viele zu Demokratie und Toleranz bekennen. 

Haben Sie das Gefühl, dass die Chemnitzer Bürgerinnen und Bürger hinter dem Chemnitzer Friedenstag stehen?
Der Chemnitzer Friedenstag ist schon lange bei den Menschen angekommen. Ich merke ganz deutlich, wenn ich Flyer verteile und sage, „Das ist für den Friedenstag“, dann nicken sofort alle. Der Friedenstag ist bekannt und gewünscht in der Stadt. Das ist auch Ausdruck von Friedenskultur, wir haben hier ein hohes Maß an Akzeptanz und Gemeinsamkeit erreicht. Immer wenn Menschen auf engem Raum agieren, muss man Formen des Miteinanders finden. Auch wenn alle Parteien zum Wohle der Stadt entscheiden wollen, gibt es Streit. Deshalb brauchen wir einen Tag, der über Parteigrenzen hinwegsieht. Der gemeinsame Aufruf aller Fraktionen zum  Chemnitzer Friedenstag, von einer breiten Bürgerschaft getragen, ist für mich ein Zeichen dieser Friedenskultur.

Der Friedenstag als interne Streit- und Wohlfühlkultur. Wirkt der Friedentag auch über die Stadtgrenzen hinaus?
Indem wir einen Friedenstag und einen Friedenspreis haben, haben wir etwas Institutionelles, was uns besonders macht und auch nach außen wirkt. Mit unserem Kunstprojekt der Schulen haben wir ein Projekt über einige Jahre entwickelt, das in seiner Breite und Ausdruckskraft in Europa einmalig ist. Vor drei Wochen war das bei dem internationalen Kolloquium in Dresden „Der Friede der Städte“ Konsens der Teilnehmer. Einige Städte haben bereits Interesse gezeigt, die Banner zu verbreiten. Am 8. März eröffnen wir in der Dresdner Kreuzkirche für zwei Monate eine Ausstellung, bei der 24 Friedensbanner gezeigt werden, die zusammen eine Fläche von 200 m² ergeben.

Sind Sie selbst überzeugter Chemnitzer? Sagen Sie gern, wo Sie herkommen?
Ich bin in der Stadt großgeworden, bin hier zur Schule gegangen und nach dem Studium wieder zurückgekommen. Ich habe mich als Architekt mein gesamtes Berufsleben hier eingesetzt, habe viele öffentliche Gebäude saniert, zum Beispiel die TU Chemnitz, zahlreiche Schulgebäude, die Burg Rabenstein oder das Wasserschloss Klaffenbach. Ich habe beruflich dazu beitragen können, dass denkmalgeschützte Gebäude der Stadt erhalten und saniert werden konnten. Viele andere Menschen in der Stadt tragen mit ihrer Arbeit auch zum Wohle unserer Stadt bei. Trotzdem braucht es das Ehrenamt, trotzdem braucht es Menschen, die sich neben ihrer Arbeit für Dinge einsetzen, die nicht mit Geld bezahlbar sind, die Ideen und Konzepte entwickeln, wie neue Probleme, wie Unfrieden bewältigt werden kann. Krieg, Flucht und Asyl ist nur ein Teil davon. In einer globalisierten Welt können wir uns nicht hinter einer Mauer in Sicherheit wiegen. Ja, ich bin mit Überzeugung Chemnitzer, auf unser Kunstprojekt bin ich wirklich stolz, es ist so gut und aktuell, dass wir es jetzt mit Energie in die Welt hinaustragen können.

Muss man den Chemnitzern Mut machen?
Auf jeden Fall. Ich erlebe immer wieder, dass die Chemnitzer der Meinung sind, hier wird nicht viel. Im Vergleich mit anderen kann ich das nicht sagen. Wir haben viel erreicht. Es gehört immer auch dazu, dass die guten Dinge publik gemacht werden. Das passiert hier noch zu wenig. Gute Dinge haben es viel schwerer, öffentlich zu werden.

Cookie Einstellungen

Wir verwenden auf dieser Website mehrere Arten von Cookies, um Ihnen ein optimales Online-Erlebnis zu ermöglichen, die Nutzerfreundlichkeit unseres Portals zu erhöhen und unsere Kommunikation mit Ihnen stetig zu verbessern. Sie können entscheiden, welche Kategorien Sie zulassen möchten und welche nicht (mehr dazu unter „Individuelle Einstellung“).
Name Verwendung Laufzeit
privacylayer Statusvereinbarung Cookie-Hinweis 1 Jahr
cc_accessibility Kontrasteinstellungen Ende der Session
cc_attention_notice Optionale Einblendung wichtiger Informationen. 5 Minuten
Name Verwendung Laufzeit
_pk_id Matomo 13 Monate
_pk_ref Matomo 6 Monate
_pk_ses, _pk_cvar, _pk_hsr Matomo 30 Minuten

Datenschutzerklärung von Matomo: https://matomo.org/privacy/