»Viele Menschen sind viel offener geworden«

Weißer Stock e.V.

Macher der Woche vom 26. November 2021

Vor genau 20 Jahren gründeten Mitglieder des Blinden- und Sehbehindertenverbands den Verein Weißer Stock. Die Mitarbeiter: innen beraten im Rosenhof sehbehinderte und blinde Menschen. Zudem stemmt der Verein Projekte. René Ludwig (46) ist seit seiner Geburt blind und seit neun Jahren Vorsitzender des Vereins »Weißer Stock«. Im Macher der Woche-Interview erläutert er, was blinde Menschen sich von der Umwelt wünschen.


Wie sicher kann man sich als sehbehinderter Mensch in Chemnitz bewegen?
René Ludwig: Im Großen und Ganzen recht gut. Es gibt an mehreren Stellen Blindenleitsysteme, etwa an der Zentralhaltestelle und am Hauptbahnhof. Da haben wir als Weißer Stock und als Blinden- und Sehbehindertenverband auch in den Gremien mitgewirkt. Aber es gibt immer noch Dinge, die verbessert werden könnten.

Zum Beispiel?
Ein Dauerthema sind die Ampeln. Zum einen gibt es das Hin und Her mit Anwohnern, denen die Ampeln zu laut sind. Wir brauchen aber das so genannte Auffindesignal (Tackern) zum Finden der Ampel. Wenn sie grün wird, piept es. Auch, dass die meisten Ampeln 21 Uhr abgeschaltet werden, ist schwierig für uns, da auch blinde und sehbehinderte Menschen spätabends noch sicher eine Straße überqueren müssen.

Stimmt es, dass diese Elektroroller eine Gefahr für blinde Menschen darstellen?
Wenn sie ordnungsgemäß abgestellt sind, ist das kein Problem. Dann stoße ich höchstens mit der Schulter dagegen. Wenn sie aber mitten auf dem Gehweg stehen oder liegen, dann stolpere ich drüber. Schwieriger sind jedoch Autos, wenn sie wie auf dem Kaßberg an Ecken abgestellt werden. Wenn ich die umrunde, laufe ich anschließend schräg über die Kreuzung.

Welche Aufgaben hat der Weiße Stock?
Unsere Kernaufgabe ist es, eine Anlaufstelle für blinde und sehbehinderte Menschen in Chemnitz zu sein. Wir betreiben vor allem die soziale Beratungsstelle. Im Jahr haben wir etwa 1400 Kontakte, davon etwa 600, die direkt hier in den Rosenhof 4 kommen. Hinzu kommen unsere Projekte.

In der Beratungsstelle im Rosenhof 4 erhalten Betroffene nicht nur Hilfe beim Ausfüllen von Anträgen. Besucher können auch Hilfsmittel wie Blindenabzeichen und sprechende Fieberthermometer ausprobieren und es stehen spezielle Geräte zur Verfügung, die den Alltag erleichtern. Etwa ein Vorlesegerät, das von einem beliebigen Dokument ein Foto erstellt und dann mittels einer synthetischen Sprachausgabe vorliest.

Wie kann man einem blinden oder sehbehinderten Menschen genau helfen?
Ansprechen! Nicht einfach von hinten an der Schulter packen und schieben. Es ist immer wichtig, wenn man Hilfe anbieten will, dass man spricht, dass man kommuniziert und sagt: »Kann ich Ihnen helfen?« Und dass man jetzt auch nicht sauer ist, wenn der Blinde mal sagt: »Nee, ich komme gut zurecht.«

Für ein größeres Verständnis hat der Verein im März 2020 das »Sinnreich« im Rosenhof 14 eröffnet. Was hat es damit auf sich?
Das sind Erlebnisräume im Dunkeln. Schulgruppen oder auch Teams etwa von Arztpraxen, die viel mit sehbehinderten und blinden Menschen zu tun haben, können dort Termine buchen. Und dann erleben sie mit einem Guide, der selbst blind oder sehbehindert ist, verschiedene Alltagssituationen. Künftig wollen wir hinterher noch mehr darüber sprechen, um Missverständnissen vorzubeugen.

Welche Missverständnisse?
Dass Sie nicht glauben, dass es sich für uns Blinde genauso anfühlt. Wenn Sie jetzt in einen komplett abgedunkelten Raum gehen, fühlen Sie sich komplett verloren. Ich fühle mich natürlich nicht so hilflos. Für mich ist das Alltag. Das ist wichtig zu wissen. Wir planen, das Ganze ohnehin zu erweitern. Ab nächstem Jahr wollen wir im ehemaligen Kreativcafé »All in« im selben Gebäude auch Veranstaltungen anbieten, mal eine Lesung oder einen Hörfilm.

Mit einem ähnlichen Ansatz arbeitet das Schulprojekt »Anders sehen – anders sein«.
Richtig, da gehen unsere Ehrenamtlichen für eine Unterrichtsstunde in die Schulen. Ziel ist, ein Verständnis für Blinde zu schaffen. Bei uns können die Kinder auch mal Hilfsmittel ausprobieren. Da ist der Spaß immer groß, wenn sie das Farberkennungsgerät an ihre T-Shirts halten und die Farbe angesagt wird. Das ist ein wichtiges Projekt. Insofern stimmt das mit dem Macher der Woche nicht so ganz, denn unsere beiden Vereine bestehen aus Machern. Mitarbeiter und Ehrenamtler investieren oft mehr Zeit als ich als Vorsitzender.

Sind Sie berufstätig?
Na klar. Ich arbeite als Computerfreak für eine Firma, die Lesegeräte für Blinde herstellt. Da gebe ich auch Schulungen und arbeite im Außendienst.

Wie kommen Sie denn dahin?
Mit Bus oder Bahn oder die Arbeitsplatzassistenz fährt mich. Wenn man berufstätig ist, bekommt man das für ein paar Stunden pro Woche vom Integrationsamt bezahlt.

Warum haben Sie keinen Führhund?
Ich mag Hunde, aber ich bin jemand, der die Verantwortung nicht so gerne hat. Meinen Langstock kann ich in die Ecke stellen. Mit dem Hund muss man regelmäßig rausgehen und man kann ihn nicht überall mit hinnehmen.

Eine weitere Säule des Vereins ist die Begleitassistenz »Führ mich«. Was steckt dahinter?
Derzeit haben wir 14 Begleiter im Einsatz, die ehrenamtlich Blinde und Sehbehinderte begleiten – zum Spazierengehen, mal ins Theater oder in die Oper oder zum Arzt. Dafür suchen wir jederzeit Verstärkung. Für dieses Ehrenamt muss man einfach offen und kommunikativ sein, und ein bisschen Zeit haben. Von den gemeinsamen Gesprächen profitieren beide Seiten. Das erweitert den Horizont.

Wer Interesse hat, als Begleiter:in mitzuwirken, kann sich in der Beratungsstelle des Vereins »Weißer Stock« melden (fuehrmich@weisserstock. org). Dabei muss das nicht bedeuten, ständig verfügbar zu sein. Wer zum Beispiel berufstätig ist, wird nur für Termine nachmittags oder an den Wochenenden angefragt.

Was bedeutet Inklusion für Sie?
Zum Beispiel, dass jeder die Fähigkeiten des anderen akzeptiert. Inklusion sollte nicht immer nur im Schulkontext diskutiert werden, sondern für alle Bereiche der Gesellschaft. Es geht darum, zum Beispiel Gebäude und den öffentlichen Raum für alle nutzbar zu machen. Wenn es keine Stufen gibt, hilft das nicht nur dem Rollstuhlfahrer, sondern auch der Mutter oder dem Vater mit dem Kinderwagen. Wenn die Fahrtrichtung des einfahrenden Busses angesagt wird, profitieren auch Senioren davon.

Was wünschen sich Blinde und Sehbehinderte von der Gesellschaft?
Wichtig ist eine Offenheit anderen Menschen gegenüber. Man sollte nicht so viel nachdenken, was der Blinde kann oder nicht, sondern ihn einfach fragen.

Haben Sie das Gefühl, dass es da Fortschritte gibt?
Ja. Wenn vor 20 Jahren ein Kind seinen Vater auf der Straße auf einen Blinden aufmerksam gemacht hat, dann hörte man nur ein »Pssst«. Jetzt wird ihm erklärt, dass wir mit unserem Langstock Hindernisse finden. Viele Menschen sind viel offener geworden.

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