Jeder hilft, wo er kann
Jeannine Pohland & Nina Krauße vom Freiwilligenzentrum Chemnitz
Macherinnen der Woche vom 18. März 2022
Der Krieg in der Ukraine erschüttert die Welt. Menschen sind auf der Flucht, die meisten haben nicht viel mehr als ihre Kinder und einen Koffer dabei. Viele Chemnitzerinnen und Chemnitzer wollen helfen, spenden Gegenstände, fahren an die polnisch-ukrainische Grenze, um Verwandte, Bekannte oder wildfremde Leute abzuholen. Stellvertretend für die vielen Helferinnen und Helfer, die gerade kaum Zeit für ein Gespräch wie dieses finden, berichten Jeannine Pohland und Nina Krauße vom Freiwilligenzentrum Chemnitz über ihre derzeitige Arbeit. Das Zentrum wurde von der Stadt Chemnitz kurzfristig beauftragt, die niedrigschwelligen Spenden- und Hilfsangebote zu koordinieren. Damit haben sie alle Hände voll zu tun.
Wie hoch ist aktuell Ihr Stresslevel auf einer Skala von 1 bis 10?
Jeannine Pohland: Ich würde sagen 12. In den ersten Tagen erreichten uns 150 bis 180 Anrufe am Tag, dazu mehr als 100 E-Mails. Es ist wirklich überwältigend. Allerdings: Wir beide sitzen hier im warmen Büro, haben ‚nur‘ den Stress am Telefon. Das ist nichts im Vergleich zu den vielen, vielen Menschen, die nach ihrer Arbeitswoche noch Freitagnacht mit ihrem privaten Fahrzeug in Richtung ukrainische Grenze starten oder täglich zehn, zwölf Stunden Spenden annehmen beziehungsweise sortieren.
Was ist genau Ihre Aufgabe?
Pohland: Wir koordinieren die Hilfen während des Ukraine-Krieges, wir nehmen selbst keine Spenden an. Wir sind Ansprechpartner für alle, die ihre Hilfen zur Verfügung stellen möchten und die Hilfe benötigen. Am 28. Februar, dem ersten Montag nach Beginn des Einmarsches, erhielt ich morgens einen Anruf vom Sozialamt der Stadt, ob wir diese Aufgabe kurzfristig übernehmen können.
Das Freiwilligenzentrum Chemnitz existiert seit 25 Jahren und befindet sich in Trägerschaft der Caritas. Es ist eine Kontaktstelle für freiwilliges Engagement in Chemnitz. Jeannine Pohland und Nina Krauße informieren, beraten und vermitteln Interessierte in ein Ehrenamt und unterstützen Vereine, Projekte und Organisationen dabei, Freiwillige zu finden. 2021 zum Beispiel wurden rund 200 Menschen in ein Ehrenamt vermittelt. Allein für die Corona-Alltagshilfe sind bereits mehr als 600 Menschen in Chemnitz registriert.
Wer ruft bei Ihnen an?
Krauße: Es sind vor allem Leute, die helfen wollen. Wo können sie Spenden abgeben? Wo können sie mit anpacken? Wo können sie sich melden, wenn sie eine Unterkunft haben? Es sind viele Einzelschicksale. Da sind Menschen, die am Wochenende an die Grenze gefahren sind und Geflüchtete abgeholt haben. Wer nimmt auf, wer gibt etwas ab, wie geht es weiter – es sind unzählige Fragen. Viele wissen zum Beispiel nicht, dass sich die Geflüchteten unbedingt bei der Stadt melden und registrieren lassen müssen. Um ihre Dokumente übersetzen zu lassen, ist aber ein vereidigter Dolmetscher nötig.
Pohland: Wahnsinnig viele sind an den Wochenenden an die Grenze gefahren und haben Menschen abgeholt. Neben Bekannten und Verwandten sind viele Chemnitzer:innen auch auf ‚Gut Glück‘ an die Grenzen gefahren und haben eine ukrainische Familie in Sicherheit nach Chemnitz gebracht. Andere bieten ihre Hilfe an, ohne zu wissen, wie die konkret gebraucht werden könnte. Ein Beispiel: Da meldet sich einer bei uns, der einen VW-Bus hat. Zwei Stunden später ruft ein anderer an und sagt, ich will zur Grenze fahren und nehme noch Hilfsgüter mit. ‚Kennen Sie jemanden, der ein größeres Auto hat?‘ Also haben wir den mit dem VW-Bus angerufen und in der Nacht saßen die Beiden zusammen im Auto auf dem Weg Richtung Ukraine. Es ist Wahnsinn, wie viele Menschen sich einsetzen.
Haben Sie noch mehr solcher Beispiele?
Krauße: Ja, eine Flugschule aus Lübeck hat sich bei uns gemeldet und angeboten, von Jahnsdorf aus Hilfsgüter an die polnisch-ukrainische Grenze zu fliegen, weil die Autobahnen in Polen überfüllt sind. Oder eine Frau, die ein Restaurant hatte, spendet Geschirr und Besteck. Eine soziale Einrichtung ruft an und fragt, an wen sie die Einnahmen aus einem Flohmarkt spenden können. Davon gibt es unzählige Beispiele.
Pohland: Wirklich viele Kindergärten, Einrichtungen wie Pflegeheime und auch Unternehmen haben Sammelaktionen gestartet oder bieten Unterstützung an. Ein Handyshop verteilt SIM-Karten. Ein großes Möbelhaus hat Matratzen und Bettwäsche angeboten, eine Bäckereikette bietet Essen an. Berührt hat mich auch eine Firma hier aus Chemnitz, deren Geschäftsführer Ukrainer ist. Er sammelt seit Tagen Medikamente und medizinische Geräte und fährt das bis zur Grenze. Von dort gehen diese unter anderem an ein Kinderkrankenhaus in Kiew, das bereits von Bomben getroffen wurde. Die Kinder dort werden im Keller behandelt. Hineinfahren in die Ukraine ist schwierig. Wir wissen von ukrainischen Studenten, die an der Grenze Rucksäcke befüllen und Hilfsgüter – auch aus Chemnitz – ins Landesinnere tragen. Das sind die Helden der Ukraine-Hilfe, wir unterstützen sie nach Kräften.
Krauße: Jeder leistet einen Beitrag. Jeder ist gerade wichtig. Und unsere Koordination ist auch eine große Hilfe. Aber wir könnten nichts koordinieren, wenn es nicht die vielen Engagierten gäbe.
Neben vielen kleinen Initiativen, die sich spontan gefunden haben, sind unter anderem zwei Vereine aktiv, die sich schon länger in der Flüchtlingshilfe engagieren: Human Aid Collective und das Netzwerk für Integration und Zukunft. Sie sind spätestens seit dem 27. Februar wieder im Dauereinsatz. Steffi Wagner, Vereinsvorsitzende des Netzwerks für Integration und Zukunft, das seit 2015 existiert, sagt: „Die Hilfsbereitschaft ist enorm, ich bin wirklich begeistert von den Chemnitzern.“ Eine Herausforderung sei es, die Spenden zu sortieren. Das Netzwerk für Integration und Zukunft stattet damit Transporte, die in Richtung Ukraine aufbrechen, aus oder reicht sie an die hier Ankommenden weiter. Erhöhter Bedarf besteht derzeit an Kinderwagen und Kinderkleidung ab Größe 140. Aktuell ist Steffi Wagner auf der Suche nach einer Halle, die der Integrationshilfeverein temporär kostenfrei nutzen kann, um auch gespendete Möbel und Küchengeräte annehmen zu können. „Wichtig: mit einer Rampe für Lkw“, sagt Steffi Wagner. Auch Geldspenden würden sehr helfen, da zum Beispiel Unterwäsche und Hygieneartikel eben nicht gebraucht weitergegeben werden könnten.
Können Sie sich diese Hilfsbereitschaft erklären?
Pohland: Die Menschen müssen etwas tun. Viele fühlen sich hilflos und indem sie anpacken, haben sie das Gefühl, nicht ganz machtlos zu sein. Wir haben schon zu Anfang der Corona-Pandemie eine starke Hilfsbereitschaft erlebt, aber das hier toppt alles.
Wie können Menschen aktuell helfen?
Krauße: Auf unsere Internetseite, www.freiwilligenzentrum-chemnitz.de/ukraine, steht eine Liste, die wir fortlaufend aktualisieren. Dort sammeln wir alle Hilfsangebote und -gesuche. Dort sollten die Menschen zuerst schauen, ehe sie bei uns anrufen. Da werden schon viele Fragen beantwortet. E-Mails beantworten wir zeitnah. Praktische Hilfe wird vor allem beim Sortieren gebraucht. Manche Initiativen haben aber einen Annahme-Stopp verhängt, weil sie nicht mehr nachkommen.
Die Situation ändert sich aktuell ja auch nahezu täglich.
Pohland: Definitiv. Hier melden sich Lehrerinnen und Lehrer, die Deutsch-Kurse anbieten. Der Stadtsportbund will sich einbringen. Eine Hebamme hat sich gemeldet und eine Pädagogin könnte Behördengänge begleiten. Manche müssen wir noch vertrösten, denn das kommt alles erst noch. Zum Beispiel brauchen wir in absehbarer Zeit dringend Psychologen. Damit dürfen wir nicht zu lange warten. Im Moment aber steht an oberster Stelle für die Geflüchteten: Lebensmittel, ein Dach über dem Kopf und Kleidung.
Krauße: Wir haben auf unserer Internetseite auch ein Registrierungsformular für Freiwillige erstellt. Dort können die Menschen eintragen, welche ehrenamtliche Hilfe sie leisten können. Dazu gehören zum Beispiel Fahrdienste, eine Sprachpatenschaft oder die Unterstützung in schriftlichen Angelegenheiten.
Haben Sie auch Kontakt zu Geflüchteten?
Pohland: Das nimmt täglich zu. Vorhin standen zwei Frauen mit mehreren Kindern hier in der Beratungsstelle. Sie fragten, wie sie Kleidung kommen. Die Kinder trugen nur Jogginghosen. Und dann fragten die Frauen, wie sie helfen können und boten an, Spenden sortieren. Wir haben ihnen gesagt, dass sie erstmal ankommen sollen, und haben sie als Dolmetscher in unsere Datenbank aufgenommen. Denn gerade Dolmetscher, auch russisch sprechende, brauchen wir.
Wie nahe geht Ihnen das alles?
Pohland: Sehr. Wir hören so viele Schicksale, Menschen berichten uns von Verwandten, zu denen sie keinen Kontakt mehr haben. Ein Chemnitzer erzählte uns, dass seine Freundin zwei Wochen vor Beginn des Krieges ihre Familie in der Ukraine besucht hat und nun dort ist. Sie will zurück, aber nicht ohne ihre Familie Es zerreißt einem das Herz.
Krauße: Gerade die ersten Tage waren sehr emotional. Wenn jemand, der einfach so geflüchtete Menschen an der Grenze abgeholt hat, dann am Telefon weint, weil die weiterführende Hilfe noch nicht klappt, lässt uns das nicht kalt. Es ist emotional sehr aufwühlend – für jede Helferin und jeden Helfer. Aber das ist nichts im Vergleich zu den Menschen in der Ukraine, die täglich um ihr Leben fürchten müssen.