Chancen für die Schwächsten
Hans-Rudolf Merkel - Kinder- und Jugendstiftung Johanneum
Macher der Woche vom 2. September 2022
Sie ist die einzige Stiftung der Stadt Chemnitz: die Kinder- und Jugendstiftung Johanneum. Sie stellt Projekte auf die Beine, die jungen Menschen in Chemnitz eine Perspektive geben sollen, die zumeist auf der Schattenseite des Lebens stehen. Welche Motivation dahinter steht und wie das 20-jährige Jubiläum der Wiedergründung gefeiert wird, erläutert der Vorsitzende des Vorstands, Hans-Rudolf Merkel im Macher-der Woche-Interview.
Herr Merkel, Sie engagieren sich seit 20 Jahren in der Kinder- und Jugendstiftung Johanneum. Warum?
Mir ist es schon immer wichtig gewesen, mich im sozialen Bereich zu engagieren. Es ist eine befriedigende Aufgabe, für Kinder und Jugendliche in Chemnitz da sein zu können. Ich bin in Chemnitz-Harthau aufgewachsen und wohne bis heute dort. In diesem Stadtteil stand bis 1989 das Kinderheim „Geschwister Scholl“, das die Stiftung nach 1924 errichtet hatte. Die dort zu DDR-Zeiten betreuten Kinder gingen, so wie ich, in die POS Harthau. Einige Begegnungen mit diesen Kindern sind mir heute noch in Erinnerung. Das war aber nur einer der Gründe für mein Engagement in der Stiftung.
Und als damaliger Direktor der Stadtmission Chemnitz waren Sie ohnehin nah dran an dem Ablauf, richtig?
Ja, am Prozess zur Wiederbegründung der Stiftung war ich im Zuge meiner Tätigkeit im Jugendhilfeausschuss der Stadt Chemnitz aktiv beteiligt. Der Bezug zur Diakonie ist aber auch historisch sichtbar. Der Gründer der Stiftung, Carl Christian Hübner, stand wohl mit dem Theologen Johann Hinrich Wichern in Kontakt, der seinerzeit im Rauhen Haus in Hamburg die Grundlagen für eine damalige moderne Sozialpädagogik entwickelt hat. Da J. H. Wichern als Begründer der organisierten Diakonie in Deutschland gilt, war es für mich eine Ehre, mich als damaliger Direktor der Stadtmission Chemnitz im Vorstand und später als Vorsitzender zu engagieren.
Die Stiftung wurde im Jahr 2002 wieder gegründet. Aber von vorn: Wie kam es zur Gründung?
1855, zur Zeit der Frühindustrialisierung, existierte am Ufer des Flusses Chemnitz viel Textilindustrie. Christian Hübner war Mitinhaber einer Fabrik, die textile Stoffe gefärbt hat. Eine gesundheitsschädliche Arbeit. Als Privatlehrer kam er mit der Kinderarbeit in Berühung. Als 1855 der sächsische König Johann in Chemnitz weilte, bat Hübner ihn, seinen Namen nutzen zu dürfen. Daraus ist die heute noch bekannte und wiederbelebte Johanneum-Stiftung entstanden.
Ursprünglich sollten Waisenkinder gefördert werden?
Als Stiftungszweck ließ Christian Hübner festschreiben: “Zur Erziehung von sittlich verwahrlosten Chemnitzer Kindern nach dem Vorbild des Rauhen Hauses in Hamburg”. Dieser Zweck darf von niemanden gebeugt werden und ist auch durch all die Gesellschaftsepochen hindurch von niemandem gebeugt worden, weder im Naziregime noch zu DDR-Zeiten. An diesen Stiftungszweck sind auch wir gebunden, seit die Stiftung 2002 wieder belebt wurde. Nun sagt heute niemand mehr “sittlich verwahrloste Kinder von Chemnitz”, sondern unser Thema sind sozial benachteiligte Kinder von Chemnitz.
Wie kam es damals zur Wiedergründung?
Das Stiftungsvermögen und die bis dahin entstandenen Gebäude, Häuser und Grundstücke sind 1950 verstaatlicht worden. Nach der Wiedervereinigung fiel das zunächst in das Vermögen des Freistaates Sachsen und wurde dann rückübertragen an die Stadt Chemnitz. Das Hauptgebäude ist das ehemalige Geschwister-Scholl-Heim in Harthau. Anfang der 2000er-Jahre standen wir vor der Frage: Wollen wir die Kindereinrichtungen nach dem ursprünglichen Charakter als Kinderheim nutzen? Oder ist es nach neuen sozialpädagogischen Erkenntnissen zweckmäßiger, in Wohngruppen und sonstigen alternativen Formen für die Kinder da zu sein und sie zu betreuen? Das war eine intensive Auseinandersetzung in der Stadt Chemnitz, im Jugendhilfeausschuss und den ganzen Fachausschüssen. Am Ende fiel die Entscheidung, die Immobilie und einen Teil der Grundstücke zu verkaufen und den Erlös ins Stiftungskapital einzustellen. Damit wurde 2002 die Stiftung wiederbegründet – an den Stiftungszweck gebunden, aber konkret ausgerichtet für sozial benachteiligte Kinder in Chemnitz, um sie finanziell zu fördern und darüber hinaus Projekte der Jugendhilfe als Anschubfinanzierung und, wenn notwendig, auch als Einzelfallhilfe mit zu finanzieren.
Wie finanziert sich die Stiftung?
Wir sind die einzige kommunale Stiftung der Stadt Chemnitz. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Die Arbeit im Vorstand und im Kuratorium wird ehrenamtlich geleistet, und die Stadt gewährt uns Unterstützung in Form einer Personalstelle, die beim Jugendamt angesiedelt ist. Unsere Projektarbeit finanzieren wir aus den Erträgen, die die Stiftung abwirft. Unser Startkapital aus den Verkäufen lag 2002 bei rund 250.000 Euro, bis heute ist es uns gelungen, das Stiftungskapital durch Zustiftungen zu verdoppeln. Das ist beachtlich.
Welche Projekte können sich für eine Förderung bewerben?
Es müssen Projekte sein, die sich um Chemnitzer Kinder und Jugendliche bemühen. Bei den Trägern der Freien Jugendhilfe liegt unser Schwerpunkt auf neuen Projekten. Bevor man in den Regelkreislauf der Fördermittel einsteigen und beim Jugendamt einen Antrag stellen kann, muss man in Vorleistung gehen und das übernehmen wir gern mit einer Anschubfinanzierung. Darüber hinaus unterstützen wir auch Einzelpersonen, die einen finanziellen Zuschuss benötigen für eine Veranstaltung, Ereignis oder wenn eine besonders schwere Situation vorhanden ist.
2009 haben Sie sich eine eigene Marke gegeben: die Joanneum-Akademie. Was verbirgt sich dahinter?
Die Idee ist, in den Frühjahrsferien und in den Herbstferien etwa 15 Kinder aus sozial schwachen Familien für eine Woche herauszulösen. Sie werden dann eine Woche lang im Schullandheim des KJF im Küchwald betreut. Und wir haben inzwischen zehn verschiedene Module kreiert: Medizin und Gesundheit, Lernen zum Lernen, geschichtliche Themen, Kunst, kreative Beschäftigung. Ziel ist, dass die Kinder Gemeinschaft erleben können mit anderen Kindern und dass sie Lust verspüren, früh aufzustehen, Lust haben, in die Schule zu gehen und ihnen deutlich zu machen, dass es etwas Schönes ist, wenn man mit den eigenen Händen arbeitet und im ordentlichen Beruf auch sein Leben selber finanzieren kann. Das findet sehr großen Anklang. Seit dem Start 2009 haben wir 300 bis 400 Chemnitzer Kinder zwischen 10 und 14 Jahren erreicht.
Wie werden die Kinder ausgewählt?
Durch die Schulsozialarbeiter oder den Sozialdienst im Jugendamt. Die haben Kontakt in die Familien. Das geht natürlich immer nur mit Unterstützung der Eltern.
Am 8. September findet der nächste Stiftungstag statt. Was ist da geplant?
Das ist ein besonderer Tag, da wir die Wiedergründung vor 20 Jahren feiern. Wir sind sehr dankbar, dass der Oberbürgermeister der Stadt Chemnitz für den Stiftungstag die Schirmherrschaft übernommen hat und die Veranstaltung im Stadtverordnetensaal des Rathauses stattfinden wird. Das ist schon was Besonderes. Auch einige Kinder, die am letzten Sommercamp teilgenommen haben, sind dabei. Es gibt Redebeiträge vom Geschichtsbeauftragten der Stiftung und einem Schulsozialarbeiter, um unsere Arbeit einzuordnen.
Wie hat sich Ihre Arbeit in den vergangenen 20 Jahren verändert?
Zunächst mussten wir den Stiftungsgedanken an die Öffentlichkeit bringen. Am Anfang hatten wir wenig Geld zu verteilen und eine Vielzahl von Trägern der Freien Jugendhilfe, die über das Jugendamt Anträge gestellt haben. In den vergangenen zwei bis drei Jahren ist festzustellen, dass es relativ wenige Träger gibt. Jetzt, wo wir schon über etwas mehr Geld verfügen, könnten wir mehr machen.
Gibt es ein besonderes Erlebnis, das Sie in Ihrer Arbeit geprägt hat?
In den Coronajahren konnten wir von dem eigentlichen Programm nicht viel umsetzen. Deshalb haben wir eine Weihnachtspäckchen-Aktion kreiert und einmal zum Schulanfang Schultüten. Die Begegnung mit den Kindern, dazu ein freundliches Wort – das sind Erlebnisse, die prägen. Und sie ermutigen uns, den Weg soweit wie möglich weiterzugehen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Stiftung?
Dass der Stiftungsgedanke noch weiter in die Öffentlichkeit kommt, noch breiter in die Stadtgesellschaft integriert werden kann. Ich wünsche mir, dass es mehr Leute gibt, die über ihren eigenen Tellerrand hinaus gucken und sagen: “Wo kann ich mich engagieren, wo kann ich helfen?” Es muss nicht immer Geld sein. Darüber hinaus hoffe ich natürlich, dass die Stadt uns als kommunale Stiftung weiter nach den Möglichkeiten unterstützt. Ich denke, dann ist schon viel getan, dass die Stiftung sich weiterentwickeln kann und weiter leben kann.