Ein Leben lang Tierschützer
Jens von Lienen
Macher der Woche vom 21. Oktober 2022
Es ist ein sonniger Herbsttag in Harthau. Die Sonne steht tief und taucht die Bäume, Wiesen und Felder Am Pfarrhübel in helles Licht. Links suhlen sich Hängebauchschweine in Pfützen, auf der rechten Seite sieht man in einiger Entfernung Hunde in eingezäunten Wiesen spielen. Alles ist friedlich. Wenn man sich den Boxen nähert, schlagen die Hunde an. Sie wissen, wer hier dazugehört und wer nicht.
Jens von Lienen gehört seit über 30 Jahren dazu. Seit 1996 leitet er das Tierheim Chemnitz – Tierschützer ist er schon sein Leben lang. Er könnte bereits in Rente sein – aber aufhören wird der dienstälteste Tierheimleiter in Sachsen noch nicht. Wenn er im kommenden Jahr die Geschäfte an seine Nachfolgerin übergibt, will er dem Tierheim trotzdem weiterhin helfen. Für seinen unermüdlichen Einsatz hat Jens von Lienen in der vergangenen Woche den Sächsischen Tierschutzpreis erhalten. Im Macher der Woche-Interview erzählt er von seinen schönsten und seinen schlimmsten Erinnerungen und erklärt, was die Arbeit im Tierschutz bedeutet.
Sie sind seit 30 Jahren Tierheimleiter und damit der dienstälteste in Sachsen, wie fühlt sich das an?
Jens von Lienen: Das stimmt so nicht ganz. 1991 habe ich angefangen, damals noch im Tierheim der Stadt. Und ungefähr 1995/96 fand man einfach keinen Dümmeren (lacht). Nein, in der Zwischenzeit hatte der Tierschutzverein das Tierheim übernommen und dann haben sie mich, weil ich am meisten Erfahrung hatte, als Tierheimleiter eingesetzt.
Haben Sie schon als Kind gewusst, dass Sie im Tierschutz arbeiten wollen?
Das gab es zu DDR-Zeiten nicht. Aber meinen ersten Hund habe ich mit 14 Jahren bekommen und seitdem hatte ich durchgängig Hunde. Zur Wendezeit habe ich von einem Verwandten erfahren, dass der Runde Tisch die Hundeanlage der Staatssicherheit auf der Zschopauer Straße als Tierheim zur Verfügung stellt und da bin ich sofort zur Stadtverwaltung gerannt, habe mich dort bei der Personalabteilung gemeldet und gesagt: „Ich habe gehört, sie bekommen ein Tierheim, ich würde mich gerne bewerben“ – aber die wussten davon noch gar nichts.
Jens von Lienen hinterließ seine Daten und zwei Wochen später klingelte das Telefon: Er sollte sich bewerben – und bekam den Job. Anfangs leitete er die ehemalige Stasi-Hundeanlage. Nach der Wende suchten der Tierschutzverein und die Stadt nach einem Standort, den sie als Tierheim ausbauen können. Bis 1998 bauten sie das Objekt Am Pfarrhübel aus.
Wie hat sich Ihre Arbeit in den 30 Jahren verändert?
Ich habe mit Tieren gar nichts mehr zu tun (lacht). Ich mache eigentlich nur noch Verwaltungssachen. Als ich angefangen habe, waren wir drei Tierpfleger. Heute sind wir fünf Tierpfleger, ein Azubi und Frau Dr. Schilling als Tierärztin. Der Verwaltungsaufwand und auch die Arbeit für den Tierschutzverein hat zugenommen: Die Webseite muss gepflegt werden, es kommen permanent E-Mails.
Früher sind die Fundtiere gekommen, dann waren sie eben da. Heute machen die Tierpfleger Fotos, sobald die Tiere kommen und setzen die meist noch am selben Tag auf die Seite.
Dann kommen Facebook und Instagram dazu, wo man wirklich dranbleiben muss. Das machen auch die Tierpfleger. Sie kommen zu mir und wir besprechen im Team, wie wir etwas angehen. Ich denke, wir sind da ganz gut am Start.
Wie ist es für Sie, dass Sie früher viel mit den Tieren zu tun hatten und heute überwiegend im Büro sitzen?
Man wächst mit seinen Aufgaben. Das war eigentlich ein nahtloser Übergang. Als ich angefangen habe, gab es keine Bestandsbücher. Damals habe ich eines angelegt, weil ich immer schon fand, man muss nach außen offen sein. Wenn einer kommt und fragt: „Wie viele Tiere hast du gerade hier?“, muss ich zumindest nachgucken und dann sagen können, wie viele Hunde, Katzen und Kleintiere bei uns untergebracht sind.
Wenn Leute herkommen und sich für einen Hund interessieren, sagen wir ihnen alles, was wir über das Tier wissen. Und wenn es schon Beißvorfälle gab oder der Hund irgendwas kaputt macht – das teilen wir den Leuten alles mit. Ehrlichkeit ist auf dem Gebiet immer besser als irgendwas zu verheimlichen. Wir suchen uns die Leute raus. Sie müssen mehrmals kommen und dann diskutieren die Tierpfleger untereinander, ob sie geeignet sind oder nicht. Und dann muss man manchmal eben auch sagen: „Nein, Sie bekommen den Hund nicht, wir halten Sie nicht für geeignet.“
Was ist die größte Belastung für das Tierheim im Moment?
Ich sehe ein Problem bei Kleinanzeigen im Internet – dieser ungehemmte Tierhandel. Wir hatten kürzlich einen Fall, dass eine Frau sich dienstags einen Hund geholt hat, freitags wollte sie ihn zurückbringen und da war der Verkäufer nicht mehr auffindbar. Der Hund hat ihre Wohnung demoliert, er hat die Leute angegangen, Klamotten zerrissen und das ist ihr natürlich alles vorher nicht gesagt worden.
Was wünschen Sie sich von Tierhaltern oder solchen, die es werden wollen?
Ein schlauer Mensch hat einmal gesagt: „Die wahrscheinlich besten Tierschützer der Welt sind die, die gar kein Interesse an Tieren haben.“ Wünschen würde ich mir, dass die Leute die Tiere wie Tiere behandeln. Ein Hund ist kein Mensch, den kann ich nicht wie einen Menschen behandeln. Der braucht seine klare Ordnung, seine Gliederung, der muss sich unterordnen. Weil Hunde bis zum letzten Tag ihres Lebens lernen. Sie sind Opportunisten, sie nutzen jede Schwäche aus. Mein Hund darf auch aufs Sofa, aber ich sage wann und wann nicht.
Was sind die Anforderungen, die Tierpflegerinnen und Tierpfleger heute erfüllen müssen?
Tierpflege wird bei uns grundsätzlich nur von festangestellten Mitarbeitern gemacht. Das sind alles ausgebildete Tierpfleger. Der einzige, der keinen Abschluss hat, bin ich (lacht). Das Image des Tierpflegers war früher, dass das jeder Depp machen könne. Aber das funktioniert nicht. Tierpflege ist ja nicht nur Saubermachen. Sie müssen erkennen können, ob das Tier krank ist oder andere Probleme hat. Ganz schwierig ist es bei Beutetieren wie Kaninchen oder Meerschweinchen. Die zeigen immer erst, dass sie krank sind, kurz bevor sie umkippen.
Tierpfleger müssen auch unheimlich flexibel sein. Sie müssen 365 Tage im Jahr bereit sein, zu arbeiten. Samstag, Sonntag, Feiertag – die Bereitschaft muss da sein. Sie müssen auch nachts Bereitschaftsdienst übernehmen. Das heißt, wenn das Telefon klingelt, muss einer losfahren und irgendwo ein Tier abholen.
Wie können Menschen das Tierheim unterstützen, wenn sie kein Tier bei sich aufnehmen können?
Durch das Gassigehen. Wir haben eine ganze Menge Gassigeher. Sie müssen bei uns alle vorher eine Schulung mitmachen. Erst dann dürfen sie mit unseren Hunden rausgehen. Selbst Leute, die selber einen Hund haben, müssen die Schulung mitmachen, weil ein Hund im Tierheim etwas ganz anderes ist als ein Hund zuhause. Da gibt es große Unterschiede.
Wer dem Tierheim anderweitig helfen möchte, kann Patenschaften für Tiere übernehmen, spenden oder Mitglied im Tierschutzverein werden. Jens von Lienen hofft außerdem, dass die Menschen sich Gedanken machen, bevor sie Tiere aufnehmen. Dass sie vorher klären, was aus dem Hund oder der Katze wird, wenn es nicht mehr geht oder sie krank werden. Und dass sie sich vorher über Kosten und die richtigen Haltungsbedingungen im Klaren sind. Gerade in diesem Jahr haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viele Tiere aufgenommen, die sich die Menschen während der Pandemie angeschafft haben.
Wofür wünschen Sie sich mehr Verständnis bei Ihrer Arbeit?
Mehr Verständnis dafür, dass wir nicht alles erfüllen können. Der Bestand geht vor. Wenn jemand seinen Hund abgeben will, ich aber gerade jede Menge Hunde habe, dann muss er seinen Hund erst einmal behalten. Ich habe 40 Plätze für Hunde. Dann sind wir aber restlos besetzt. Dann kann ich nur noch dringende Fälle aufnehmen, das heißt Fundtiere und Tiere aus Beschlagnahmungen. Dafür wünsche ich mir mehr Verständnis.
Nehmen Sie Tiere kurzzeitig auf, wenn jemand zum Beispiel ins Krankenhaus muss und sie nirgends unterbringen kann?
Immer. Sie haben auch immer Vorrang. Wir sind keine Tierpension, aber in Ausnahmefällen nehmen wir solche Tiere auf. Aber nur bei Hunden und Kleintieren, bei Katzen geht das nicht. Da ist der Stress für die Tiere zu groß, die in der Wohnung alleine gehalten werden. Wenn Sie dann plötzlich hier rechts, links, vorne und hinten andere Katzen haben, ist der Stress so groß, dann werden sie krank.
Was ist Ihnen in Ihrer langjährigen Arbeit besonders im Gedächtnis geblieben?
Vor Jahren gab es im Chemnitztal einen Fall, wo Hunde verhungert sind. Das war schon harter Tobak, wenn man dahin kommt und sieht, dass die Hunde wirklich verdurstet und verhungert sind. Und die zwei, die noch gelebt haben – ich glaube, der eine wog noch 14 Kilogramm, sein Normalgewicht wäre 45 Kilogramm gewesen. Da können Sie sich vorstellen, wie kurz die vorm Sterben waren.
Das war das Krasseste, dass einer so etwas macht, aber ansonsten hatten wir auch schon „Tiermessis“ – Wohnungen, in denen 10, 15 Katzen drin sind; Meerschweinchen- oder Kaninchenzuchten, wo 40 bis 50 Karnickel in der Bude waren und es nur herausgekommen ist, weil Flüssigkeit in der Wohnung darunter durch die Decke gelaufen ist.
Welche schönen Fälle sind Ihnen in Erinnerung geblieben?
Schöne Fälle sind die, wo Sie einen Hund oder eine Katze vermitteln und die Leute sich danach noch einmal melden und sagen, dass alles passt. Wir hatten letztens eine kleine Katze, vielleicht drei Wochen alt, sie war als Fundtier gekommen. Sie hatte in den Beinen Löcher, da war alles voll Maden. Eine Kollegin hat sie dann bis zur siebenten Woche ungefähr gepflegt. Danach habe ich die Katze übernommen. Die Frau, die sie mitgenommen hat, ist überglücklich mit der Katze. Über solche Fälle freut man sich.
Können Sie loslassen, wenn sie ein Tier auch zuhause aufgezogen haben?
Ja, müssen wir. Meine Frau hat mich gefragt, ob wir die Katze denn wirklich wieder abgeben wollen und da habe ich geantwortet: „Ja, da kommt auch wieder die nächste, da brauchst du keine Angst zu haben.“ (lacht)
Was bedeutet es Ihnen, dass Sie den Sächsischen Tierschutzpreis erhalten haben?
Erst einmal möchte ich gern herausfinden, wer das eingerührt hat (lacht). Das hat mich getroffen wie ein Schlag. Ich habe erst gedacht, das ist bestimmt „Sinnlos-Telefon“, da will dich doch jemand auf den Arm nehmen, als mich jemand vom Ministerium anrief. Ich bin eigentlich nicht der Typ für sowas. Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt. Ich sehe das nicht als eine Würdigung nur meiner Arbeit, sondern auch der Arbeit meiner Kollegen. Denn ohne sie wäre ich nichts. Ohne sie würde das nicht funktionieren.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dass die Finanzierung der Tierheime auf vernünftige Beine gestellt wird. Wir bekommen im Moment eine Einwohnerpauschale hier in der Stadt, aber die ist mehr oder weniger konstant geblieben seit ewigen Zeiten und reicht vorn und hinten nicht mehr. Gerade in den letzten Monaten. Da wäre vielleicht ein Zweckverband das Richtige.