Gemeinsam Hindernisse überwinden

Martina Schneider - ASB Wohnzentum

Macherin der Woche vom 24. Juni 2022

Am 29. Juni starten 50 bis 60 Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer wieder zu einer Wanderung. Zum 21. Mal findet die Rollitour des Wohnzentrums für körperlich schwerstbehinderte Menschen des ArbeiterSamariterBundes statt – eine Aktion, die in Sachsen einmalig ist.
Martina Schneider leitet das Wohnzentrum und organisiert mit ihrem Team seit Jahren die Rollitour. Im Macherin der WocheInterview spricht die 62Jährige darüber, wie es um die Barrierefreiheit in Chemnitz steht.


Frau Schneider, was bedeutet die Rollitour für Menschen mit Behinderung?

Martina Schneider: In erster Linie geht es um den Spaß am gemeinsamen Ausflug. Zugleich ist es die Gelegenheit, aktiv am Stadtgeschehen teilzunehmen und ein Teil der Stadt zu sein. Alle Menschen sollen die Möglichkeit haben, sich selbst um ihre Belange kümmern zu können und so Teil der Gesellschaft zu sein – so wie man das als selbstverständlich erachten sollte.

In diesem Jahr gibt es sogar einen Arbeitsauftrag. Welchen genau?

Wir planen eine Rollitour durch die Stadt, die wir damit verbinden, eine Broschüre für einen Stadtrundgang durch die Chemnitzer Innenstadt zu erstellen. Ein Stadtrundgang, der für alle Menschen da ist, der aber Hinweise enthält, die für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen wichtig sind. Wo zum Beispiel ist der Eingang nicht barrierefrei? Wege, die für Rollstuhlfahrer noch nicht so gut nutzbar sind, werden benannt, um dort zeitnah Abhilfe zu schaffen. Es wird keine Broschüre für Rollstuhlfahrer, sondern sie wird für alle sein.

Vom ASB Wohnzentrum geht es dieses Jahr übers Schauspielhaus, Johanniskirche, smac, Hauptbahnhof, Aktienspinnerei, Theaterplatz, Karl- Marx-Monument, Stadthallenpark, Roter Turm, Rathaus und am TIETZ vorbei zum Annenplatz. Am Stadtteilbüro Reitbahnviertel wird gegrillt. Das sind circa acht Kilometer.

Ist die Rollitour der Startschuss für die Broschüre?

Nein, wir arbeiten daran. Die Rollitour wird ein Probelauf sein, ob der Stadtrundgang funktioniert. Wir geben die ersten Entwürfe und Wegbeschreibungen allen Teilnehmern in die Hand, um das, was wir bei den Probeläufen nicht gesehen haben, noch aufzunehmen. Beim Tun fällt einem immer mehr ein, als wenn man nur darüber spricht. Parallel dazu soll eine Liste entstehen, in der Barrieren benannt werden, die noch behoben werden müssen. Die möchten wir am Ende dem Baubürgermeister übergeben.

Neben Bewohnern, Mietern, Freunden, Angehörigen und ehemaligen Mitarbeitern sowie Schülern des „Terra Nova Campus“ ist die Behindertenbeauftragte der Stadt, Petra Liebetrau, dabei. Der Leiter des Verkehrs- und Tiefbauamtes, Martin Reinhold, wird einen Teil der Strecke im Rollstuhl absolvieren. Manche Ärzte schließen ihre Praxis, damit ihre Mitarbeiter mitlaufen können. Insgesamt rechnet Martina Schneider mit 100 Teilnehmenden. Jede Rollitour steht für ein Projekt, für das die eingenommenen Spendengelder genutzt werden. In diesem Jahr soll davon eine Wohnung zu einem Ort mit drei speziellen PC-Arbeitsplätzen ausgestattet werden.

Wo in Chemnitz gibt es in Sachen Barrierefreiheit noch Nachholbedarf?

Oft ist der Bordstein abgesenkt, aber wenn die Verkehrsinseln mehr als fünf Zentimeter hoch sind, schafft das kein Rollstuhlfahrer – vor allem dann nicht, wenn der laufende Verkehr droht. Auch die großen Gehwegplatten oder Kopfsteinpflaster sind schwierig, weil die Erschütterungen für Rollstuhlfahrer sehr unangenehm sind und Schmerzen auslösen können. Ein anderes Beispiel: Wenn man von der Georgstraße links in die Mühlenstraße Richtung Stadtbad fährt, steht man plötzlich vor einer hohen Bordsteinkante. Da hilft nur noch umdrehen.

Über die Rollitour hinaus sind Sie für mehr Barrierefreiheit in Chemnitz sehr aktiv, richtig?

Ich gebe zu, es ist ein bisschen mein Hobby: das Fördermittelprogramm Lieblingsplätze. Dabei können auch wir als Nutzer aktiv werden – das Programm vorstellen und die Antragsarbeit übernehmen, um so zum Beispiel automatische Türen einbauen, Rampen errichten oder – wie im Ärztehaus am Walkgraben – ein Blindenleitsystem installieren zu lassen. Das sind Stellen, an denen wir mit unseren Bewohnern oft sind. Die Ärzte finden es wichtig, doch es fehlt ihnen an Zeit. Daher bieten wir an: »Wir kümmern uns. Wir brauchen nur Ihre Mitwirkung.« Wir arbeiten sehr eng mit der Behindertenbeauftragten zusammen. Gemeinsam sind wir der Ansicht, dass wir als Nutzer von Barrierefreiheit auch selbst für diese Veränderungen in eigener Sache etwas bewirken können. Getreu unserem Motto "Das Schönste an uns ist das Wir".

Das Investitionsprogramm »Lieblingsplätze für alle« soll den Zugang zu und die Nutzung von öffentlich zugänglichen Gebäuden und Einrichtungen durch die Beseitigung von Barrieren ermöglichen oder erleichtern. Die Förderung kann in Kultur, Freizeit und Bildung, aber auch im Gesundheitswesen wirksam werden. Für 2022 stehen für Chemnitz knapp 290.800 Euro zur Verfügung. Ist das Vorhaben nicht teurer als 25.000 Euro, werden bis zu 100 Prozent der Kosten übernommen. Das Sozialamt nimmt für 2023 noch Anträge bis zum 30. November 2022 entgegen und erteilt telefonisch unter 488-5023 oder 5026 Auskünfte dazu. Daneben wird derzeit analog zum Entstehen der UN-Behindertenrechtskonvention der Lokale Aktionsplan »Chemnitz inklusiv 2030« erarbeitet. AGs wie »Barrierefreies Bauen« und »ÖPNV für alle« sorgen in der Stadt Chemnitz darüber hinaus ebenfalls immer für den Blick auf Menschen mit Behinderungen.

Wie ging das dann weiter?

Im vorigen Jahr hat eine Mieterin aus dem Wohnzentrum begonnen sich mit dem Antragsverfahren auseinanderzusetzen und erste Anträge bearbeitet. Parallel kam für die Bewohner des Wohnzentrums die Umstellung der Teilhabeleistungen auf das Bundesteilhabegesetz. Gemeinsam mit der Behindertenbeauftragten und dem Sozialamt haben wir ein Projekt für und mit den Bewohnern des ASB Wohnzentrums daraus gemacht. Im Ergebnis werden zurzeit für die Oper Chemnitz zwei Türen des Haupteingangs auf Automatik umgerüstet, ebenso die Ärztehäuser Bahnhofstraße 52 und 54 und Weststraße 98a. Zudem erhielt das Stadtteilbüro im Reitbahnviertel, in dem auch die Bürgerplattform Chemnitz-Mitte sitzt und mit der wir sehr eng zusammenarbeiten, eine mobile Rampe. Das war ein absolutes Teamwork. Da haben alle Beteiligten, vom Sozialamt über den Hersteller und die zur Umrüstung beauftragte Firma bis zur Denkmalschutzbehörde, an einem Strang gezogen. Das war ein tolles Erlebnis. Ich kann mich wirklich nicht beschweren.

Eine solche Barrierefreiheit hilft ja am Ende jedem, richtig?

Genau. Das Rathaus zum Beispiel hat eine Automatiktür, aber da kommt von vorne kein Rollstuhlfahrer rein. Sie müssen trotzdem weiterhin den Hintereingang nutzen. Barrierefreiheit ist also für jeden komfortabel. Auch Menschen mit Kinderwagen oder Rollator haben es leichter. Barrierefreiheit ist ein Prozess. So entsteht gegenseitige Wertschätzung und gleiche Augenhöhe.

Weil man auch nicht ständig nach Hilfe fragen muss.

Richtig. Es macht ja auch etwas mit den Menschen, wenn sie immer jemanden um Hilfe bitten oder durch den Hintereingang müssen. Jeder möchte sein Leben selbstbestimmt bestreiten. Ein Beispiel: In kulturellen Einrichtungen sind die Rollstuhlplätze immer vorgegeben. Sie können sich nicht aussuchen, wo sie sitzen möchten und stehen somit immer im Fokus anderer Besucher. Klar, es kostet Geld, aber es gibt Fördermittelprogramme. Es sollte immer gemeinsam nach Lösungen gesucht werden. Wir wollen das Denken anstoßen und die andere Perspektive vermitteln. Aus unserer Erfahrung können wir bestätigen, dass Anliegen zu Barrierefreiheit in der Stadt Chemnitz gehört werden und Unterstützung erfahren, wenn wir konstruktiv mit den zuständigen Behörden zusammenarbeiten. Bisherige Projekte bestätigen dies.

Und das befriedigt ja auch.

Ja, unsere Bewohner beteiligen sich aktiv im Sozialraum, einer verteilt zum Beispiel den Reitbahnboten, eine Bewohnerin liest in einem Seniorenheim regelmäßig vor, Pflanzkübel im Stadtteil wurden erneuert und bepflanzt. Im Stadtteil werden wir als aktive Akteure wahrgenommen und beteiligen uns an vielfältigen kulturellen Veranstaltungen. Ziel ist es, dass wir gesellschaftlich unverzichtbar sind. Wenn man nicht nur als hilfebedürftig wahrgenommen werden möchte, muss man sich unentbehrlich machen und seine individuellen Ressourcen einbringen und sichtbar werden lassen. Jeder ist in der Lage, etwas für sich und für andere zu verändern. In unserem Denken und Handeln erfahren wir in unterschiedlichen Bereichen vielfältige Unterstützung. Dafür sind wir sehr dankbar. Mit der Bewerbung der Stadt Chemnitz zum Titel Europäische Kulturhauptstadt 2025 wurde auf Bürgerbeteiligung gesetzt, wir sind gern ein Teil davon.

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