Innovationen aus Chemnitz erobern die Welt
Dr. Heike Illing-Günther
Macherin der Woche vom 13. Mai 2022
Mit traditioneller Textilindustrie hat die Arbeit des Sächsischen Textilforschungsinstituts e.V. nichts zu tun. Textilien sind nicht mehr nur Kleidung. Sie müssen zwar Schutz vor Umwelteinflüssen, wie Regen oder Kälte bieten, zeichnen sich aber auch durch Leichtigkeit gepaart mit Funktionalität aus, sind belastbar, hitze- oder korrosionsbeständig. Branchen wie der Automobilbau, die Luftfahrt, das Bauwesen oder die Medizintechnik setzen auf das Know-how und die Erfahrung der fast 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des STFI. Dr. Heike Illing-Günther, Geschäftsführender Direktor erzählt zum 30. Jubiläum des Sächsischen Textilforschungsinstituts im Interview, wie marktreife Innovationen aus Chemnitz die Welt erobern.
Man hat das Gefühl, dass die Chemnitzerinnen und Chemnitzer mit dem Namen STFI etwas verbinden, mit der Arbeit in den Hallen aber wenig anfangen können? Woran liegt das?
Dr. Heike Illing-Günther: Zum einen hat sich der Name geändert. Wenn sie den Begriff FIFT, also das Forschungsinstitut für Textiltechnologie GmbH ins Spiel bringen, erinnern sich sehr viele Chemnitzer dran. Es war das 1957 gegründete Referenzforschungsinstitut für die DDR-Bekleidungsindustrie, vor der Wiedervereinigung Deutschlands mit 500 Mitarbeitern. Das war damals eine Größe und hinterließ Spuren. Das verblüfft mich immer wieder, aber es ist tatsächlich so, dass man das Ursprungskürzel FIFT verinnerlicht hat und mit unserem Namen per se kaum etwas anfangen kann – trotz 30 Jahren erfolgreichen Aufbaus des 1992 neugegründeten STFI. Das merken wir auch immer wieder zu den Tagen der Industriekultur, wenn wir unsere Hallen für die Öffentlichkeit zugänglich machen. Die Resonanz ist groß und die Verblüffung auch, dass es das Nachfolgeinstitut des FIFT nach wie vor gibt und darüber, was wir inzwischen so alles tun.
Ein weiterer Grund, dass die Menschen wenig mit unserer Arbeit anfangen können, ist, dass sie schwer greifbar ist und nichts mit dem täglichen, offensichtlichen Umgang mit Textilien zu tun hat. Textile Entwicklung beschäftigt sich heute nicht mehr mit Jeans, T-Shirts oder Blazern, sondern ausschließlich mit Funktionstextilien, mit technischen Textilien. Und wer spricht schon über eine schnitthemmende LKW-Plane? Diese assoziiert auch keiner mit Textilien. Oder Carbon-Beton – ein stahlfreier Bau- und Verbundwerkstoff. Das nimmt auch keiner als Textilie wahr.
Das STFI wurde am 17. Februar 1992 gegründet. Dabei schlossen sich das FIFT und das Institut für Technische Textilien (ITT) in Dresden zusammen. 24 Firmen und Einrichtungen der Textilindustrie in Sachsen und Chemnitz waren daran beteiligt. Seitdem wird in den Bereichen technische Textilien, Vliesstoffe, textiler Leichtbau, Recycling, Funktionalisierung und Digitalisierung geforscht und getestet. Aufhorchen ließ das gemeinnützige Institut durch die Zusammenarbeit mit der Internationalen Automobilföderation (FIA), die die Formel-1-Weltmeisterschaft ausrichtet. Die Bekleidung der Rennfahrer wurde in Chemnitz getestet.
Ist das Projekt mit der Formel 1 ein Aushängeschild?
Für die weltweit bekannten in Deutschland ansässigen Sportartikelfirmen haben wir bis Ende 2019 für die FIA zum Beispiel die Schuhe aller F1-Weltmeister geprüft und zugelassen. Allein der begrenzte Marktanteil dieses Segments rechtfertigt natürlich nicht dafür allein den Aufbau eines weltweit akkreditierten Labors für Hitze- und Flammenschutz, weshalb dieses Geschäftsfeld stets nur die Kirsche auf der Sahne unserer Kompetenz im Bereich textilen Schutzes war.
Als dann noch veränderte Auffassungen und Wünsche der FIA, die schon immer bestehenden zusätzlichen Kosten einer FIA-Akkreditierung um ein Vielfaches erhöhten, haben wir uns gegen die weitere Verlängerung entschieden. Offenbar eine Entscheidung, denen auch andere der nur zehn zugelassenen Labore in der Welt gefolgt sind.
Wie kommen Sie an Ihre Aufträge?
Wir betreiben Textilforschung für die Industrie. Sprich: Unternehmen können mit einer Idee auf uns zukommen und wir prüfen mit ihnen gemeinsam, was möglich ist.
Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Beispielsweise die Hillcon GmbH aus Sebnitz. Diese produziert erfolgreich Reinigungstextilien, wie Wischmops. Die sind normalerweise aus Primärmaterial, also neuwertig. Da war die Idee, ob man nicht die Moppbezüge, Saugkerne und Außenlagen, aus Recyclingmaterial herstellen kann? Dann setzen wir uns zusammen und überlegen: Was brauchen wir, was gibt der Markt her, was könnten Entsorger zur Verfügung stellen, was sind die Anforderungen und wo soll das Reinigungstextil eingesetzt werden? Wie können wir die Forschung gemeinsam finanzieren, welche Fördermittel können wir beantragen?
So entstehen Kooperationen. Nach einer erfolgreichen Forschung gibt es im besten Fall ein Musterprodukt zur Demonstration der Funktion und zum Verifizieren der Zieleigenschaften. Das Unternehmen muss dann diesen Prototypen in ein industrietaugliches und marktfähiges Produkt überführen.
Die Arbeit des Instituts besteht aus drei Bereichen: Die Mitarbeiter betreiben – unterstützt durch Fördergelder – öffentliche Forschung und publizieren ihre Ergebnisse. Sie forschen und entwickeln im Auftrag von Unternehmen. Und sie prüfen und/oder zertifizieren Textilien, wie eben Anzüge für Rennfahrer, Schutzkleidung für Gießerei-Mitarbeiter oder FFP2-Masken. „Die Ausgangsstoffe für die FFP2-Masken haben wir über fünf Monate hinweg teils im Zweischichtsystem hier produziert“, erzählt Heike Illing-Günther. „Textilfirmen aus der Region haben bei uns angerufen und nach der Filterschicht für Masken gefragt. Mit welcher Geschwindigkeit die gesamte Region Notproduktionen für Mund-Nase-Bedeckungen und Atemschutzmasken, hochfahren konnte, war beeindruckend und zeigt die extreme Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der in der Region verbliebenen Textilindustrie.“ Leider profitiere Forschung sehr häufig von Krisen und Katastrophen, wie Hochwasser, Sturmereignissen oder eben auch die letzte Pandemie, so die Chefin.
Technische Textilien und Textilien mit Spezialfunktionen werden mittlerweile in vielen Branchen zunehmend eingesetzt. Sie haben sich mit einer textilen Schallschutzwand am Sachsenring beschäftigt. Ist daraus etwas geworden?
Technologisch wäre es machbar gewesen. Aber sie steht bis heute nicht. Es ist ein spannendes Thema und nachhaltig: Attraktive Schallschutzwände, die beispielsweise üppig bewachsen sind mit Pflanzen. Je feinblättriger die Pflanze, desto besser schluckt sie den Schall, filtert sie den Staub heraus. Und ganz nebenbei verbraucht sie CO2, produziert sie Sauerstoff, befeuchtet die Luft und kühlt damit im Sommer das Innenstadtklima. Stabile Begrünung klappt leider in unseren Breitengraden nur im Frühjahr, Sommer und Herbst. Im Winter ist es schwieriger, weil eine gleichmäßige Bewässerung der Pflanzen in Frostwechselperioden oder gar bei Dauerfrost nur schwer zu realisieren ist. Damit wachsen Pflanzen dann schlecht. Hier sind wir limitiert. Da müsste man sich ein kombiniertes System einfallen lassen, um im Winter beispielsweise wenigstens eine schallschluckende Oberflächengestaltung zu erhalten.
Auf welches Projekt der jüngeren Institutsgeschichte sind Sie besonders stolz?
Da müssen wir definitiv die Unterbodenbewässerung nennen. Es gibt aride Gebiete in der Welt, in denen ohne Bewässerung nichts geht. Die Vereinigten Arabischen Emirate waren prädestiniert für Demonstratoranwendungen: Wüste, in der nichts wächst und eben der Traum von grünen Städten. Kommt man heute nach Dubai, Abu Dhabi und Co. sieht man sofort, worum es geht. Aber man hat dort ein viel größeres Ziel: Nahrungsmittel irgendwann selber kultivieren zu können. Bisher gelingt das bereits für ca. zehn Prozent. Um das zu steigern, können und werden u.a. Textilien eine große Rolle spielen, zum Wasser speichern und verteilen oder beschatten.
Der Gedanke dieser Erfindung war, Wasser nicht durch Tröpfchenschläuche auf die Oberfläche zu bringen, sondern mit unterirdischen mattenförmigen Bewässerungstextilien zu arbeiten, um Verdunstung zu verhindern. Vorteil: Das Wasser wird gleichmäßig im wurzelnahen Raum verteilt und es entsteht kein Verlust durch Verdunstung. Dafür bekamen wir 2007 den Techtextil-Innovationspreis. Aus dieser Forschung ergab sich eine marktreife Innovation. Es wurden Produkte draus, die durch eine mittelständische Firmengruppe inzwischen weltweit vermarktet wird – mit wunderbaren Referenzobjekten inzwischen auch in Europa, wie beispielsweise der Hafencity in Hamburg.
Wie ist Deutschland in der Textilforschung aufgestellt?
Wir haben 16 Textilforschungsinstitute in ganz Deutschland verteilt, wobei sie sich tatsächlich etwas in den Textilregionen konzentrieren wie in Sachsen-Thüringen, oder in Nordrhein-Westphalen, Aachener und Wuppertal, oder in der Nähe von Stuttgart. Das ist ein hervorragendes Netzwerk, das wir perfekt kennen und somit auch selbst nutzen oder die maßgeblich klein- und mittelständische Textilindustrie auch gern beraten und gegebenenfalls auch an die perfekten Partner weiterleiten.
Haben Sie ein Alleinstellungsmerkmal unter den 16 Textilforschungsinstituten?
Ja. Das sind definitv die Vliesstoffe bzw. deren sehr unterschiedlichen Herstellungstechnologien. Das haben wir einerseits in die Wiege gelegt bekommen und natürlich konsequent über die letzten 30 Jahre weiter ausgebaut und vervollkommnet. Im Ursprung waren die technischen Textilien, deren einer Vertreter u.a. die Vliesstoffe sind, die uns bei Neugründung 1992 zugeordnete Nische. Wir sind heute das einzige Institut in Europa, das alle Vliesbildungs- und Verfestigungstechnologien unter einem Dach vereint und für Entwicklungen der Industrie zur Verfügung stellt. Darauf sind wir sehr stolz.
Im August soll das Zentrum für Nachhaltigkeit am Standort des STFI fertig sein. Im neuen Gebäudekomplex an der Annaberger Straße werden dann weitere Bereiche des Textilrecyclings und Prüfung untergebracht. „Die große Herausforderung in Zukunft wird sein, Produkte zu finden, die man durch unterschiedliche Recyclingmethoden im Produktionszyklus halten kann. Technologisch wird fast alles möglich sein. Aber wir brauchen marktfähige, funktionale Produkte – so wie man sie heute kennt - und die Bereitschaft der Menschen, diese Produkte auch gleichwertig einzusetzen“, erklärt Illing-Günther und nennt gleich ein „verrücktes Beispiel“ für fehlende Nachhaltigkeit. „Vliesstoffe, die unter die Erde gelegt werden, um Hänge zu stabilisieren oder die unter die Betonschicht auf Autobahnen gelegt werden, damit keine Risse in der Tragschicht entstehen. Dieses Material ist bis heute ausschließlich aus Primärmaterial und damit immer blütenweiß. Warum kann ein solcher Vliesstoff nicht aus Recyclingmaterial und grau sein?“
Gibt es darauf eine Antwort?
(lacht). Keine zufriedenstellende. Das war schon immer so. Die makellose Qualität des Produktes wird auch hier gewünscht, zumal es für seinen Einsatz zertifiziert sein muss, d.h. verschiedene Prüfungen durchlaufen und bestehen muss, um eingesetzt werden zu können. Es muss ein Umdenken an vielen Stellen einsetzen und natürlich Forschung und Entwicklung die Gleichwertigkeit von Recyclingmaterialien sicherstellen. Technologisch ist, wie bereits erwähnt, vieles möglich. Ein gutes Beispiel ist die Autoindustrie. Jeder Autobauer ist verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz an recyceltem Material in den Autos zu verwenden. Aber Werbung macht damit keiner. Denn recycelte Produkte verkaufen sich schlechter, werden per se mit minderer Qualität vom Verbraucher assoziiert.
Sehen Sie das STFI als wissenschaftlichen Leuchtturm in der Stadt?
Als anwendungsorientiert forschenden und entwickelnden Leuchtturm mit Sicherheit, nicht als rein wissenschaftlichen. Das ist eine Diskussion, der wir uns immer wieder gern stellen. Es gibt zwei Leuchtturm-Exzellenz-Universitäten in Deutschland, die noch textile Ausbildung anbieten. Das sind Dresden und Aachen, auch an der Technischen Universität Chemnitz ist es wieder gelungen, die textile Ausbildung im technischen Sinne zu verankern. Dann gibt es unzählige Fachhochschulen, die eine gute Ausbildung anbieten, kombiniert mit Grundlagenforschung und Wissensvermittlung. Wir sehen uns als industriegetriebenen, anwendungsorientierten Entwickler. Uns fragt keine Firma, warum etwas funktioniert. Sie will, dass es funktioniert und das nachweislich – gegebenenfalls sogar akkreditiert geprüft – manchmal sogar zertifiziert.
Welche Visionen haben Sie für das STFI für 2025?
Das sind nur drei Jahre. Unsere Pläne reichen für die nächsten 30 Jahre (lacht). Bis 2025 wird sich unser Haus in seiner Basis weiter gestärkt haben, d.h. unsere Kernkompetenzen weiter ausgebaut haben. Im Sinne der Fokusverschiebung wird Nachhaltigkeit ein noch größeres Thema als heute sein – ganz egal, ob wir dabei auf energieeffiziente Fertigungstechnologien, naturstoffbasierte Materialien oder bio-abbaubare Produkte schauen.