Geschichte entdecken: Turnstraße
DER 5. MÄRZ 1945
In der Nacht vom 5. auf den 6. März 1945 erfolgten die größten Angriffe der alliierten Luftstreitkräfte auf Chemnitz. Der Krieg war längst in das Land zurückgekehrt, von dem er im September 1939 ausgegangen war. Vom 12. Mai 1944 bis zum 11. April 1945 flogen Einheiten der Royal Air Force und der United States Army Air Forces insgesamt zwölf Luftangriffe auf die damalige Industriemetropole und deren Vororte. Daran waren 2.880 schwere viermotorige Bombenflugzeuge beteiligt, die über 7.700 Tonnen Sprengmittel und Brandsätze abwarfen.
Im einstigen Stadtgebiet kamen dabei mindestens 3715 Personen ums Leben, davon 2.105 allein in jener Nacht. Im Ergebnis des Bombenkrieges wurden in der Stadt die Bauleistungen von fast einem Jahrhundert vernichtet. 3326 Gebäude wurden total zerstört oder schwer beschädigt. Nur 38.000 Wohnungen (von 110.000) blieben unbeschädigt. Über 100.000 Obdachlose verließen fortan die Stadt, zumeist ins nahegelegene Erzgebirge.
Die Turnstraße
Auch das Wohn- und Geschäftshaus Turnstraße 39 wurde in dieser Nacht getroffen. Zwei Bewohner in der unmittelbaren Nachbarschaft verloren ihr Leben. Ein 14jähriger Junge, der Zuflucht in dem Bunker Pfortensteg gesucht hatte, fand dort den Tod.
Max Küttler (†1950), Textilfabrikant aus der Turnstraße 39, hatte wenige Tage nach der Bombennacht notiert: „Chemnitz ist eine tote Stadt. Der Nachtangriff, der entsetzlich war, von 21 – 23 Uhr, brachte das Unheil. Unser großes Wohnhaus mit unserer schönen Wohnung ist vollständig abgebrannt und zerstört.“ Er schrieb, wie er mit wenigen Nachbarn das Feuer löschen wollte. „An eine Verschnaufpause war nicht zu denken, denn glühende Balkenstückchen fielen zwischen die vor den Kellerfenstern stehenden Schutzkisten, die mit Sand und Asche gefüllt waren, in die Keller. [...] Der Funkenflug war schlimm und ein schauderhafter Sturm trieb brennende Holzstückchen von Jalousien, Dachpappe usw. auf die niedriger liegenden Dächer. […] Der Tag fing an zu grauen. Hell wurde es nicht. Der Rauch der brennenden Stadt ließ die Sonne nicht durch.“
Das Vorderhaus war schwer zerstört, nur die im Hofe befindlichen Seiten- und Nebengebäude wiesen weniger erhebliche Schäden auf. Das Vorderhaus wurde letztlich 1953/54 „enttrümmert“.
Kinder im Krieg
Allein in Chemnitz fielen über 675 Kinder den Luftangriffen zum Opfer. Das erste Bombenopfer war der Säugling einer Familie in Rabenstein, der bereits am 12. Mai 1944 getötet worden war. Besonders tragisch war der Tod von 43 Bewohnern des Städtischen Kinderheimes an der Bernsdorfer Straße 120. 41 Kinder und Jugendliche verloren am 2. und 5. März 1945 ihr Leben. Auch zwölf Kinder der Gablenzer Schule waren dem Bombenangriff zum Opfer gefallen.
Die Kinder, die überlebten, erlitten ein Trauma, das sie zeitlebens begleitet hat. Stephan Tanneberger erlebte den Luftangriff als fast 10-jähriges Kind in der Turnstraße und war gemeinsam mit seiner Mutter und dem 14jährigen Bruder, einer der Helfer, die versuchten, die Brände zu löschen: „Anfang 1945 wurden die sächsischen Großstädte bombardiert. Insbesondere die Bahnhöfe und Industrieanlagen waren Ziele der Bombenangriffe. Über den Rundfunk wurde Alarm geschlagen. Erst ging zweimal in der Woche die Sirene, dann dreimal in der Woche und schließlich jeden Abend. Im Rundfunk sprach man: „Anflug feindlicher Verbände“. Das hieß für uns jedes Mal: ab in den Keller. Wir hatten schon unser Köfferchen gepackt, was wir mit in den Keller nahmen. Dort haben wir gesessen und gewartet. Wir hörten Bomben einschlagen. Meistens waren die Einschläge weit weg. Aber am 5. März war es anders.
Wir haben in den Tagen vorher schon gemerkt, dass das Bombardement heranrückte. Zuerst hörten wir ein Pfeifen und dann schlug die Bombe ein, gefolgt von einem Krachen. Im Keller herrschte große Aufregung. „Jetzt haben sie uns“, hieß es. Unser Nachbar Max Küttler sagte: „Sie bombardieren den Südbahnhof!“ Unser Haus lag ja direkt daneben. Wir lagen auf dem Boden und es krachte ständig. Wir haben alle gebetet. Dann kam die Nachricht: „Das Haus ist getroffen.“ Und es brennt. Am Anfang haben wir versucht zu löschen, aber es gab zu wenig Wasser. Nach anderthalb Stunden gaben wir auf und versuchten noch einige Dinge aus dem Haus zu retten.
Wir sind in das schon brennende Haus. Die Mutter hatte natürlich furchtbare Angst, dass uns Kindern etwas passiert. Aber wir wollten mithelfen. Meinen Teddybär hielt ich fest im Arm. Mein Bruder hat unser schönes, rotes Sofa alleine aus dem zweiten Stock heruntergetragen. Ich habe mit meinen noch nicht mal 10 Jahren die Stühle herausgetragen. Die Mutter hat Porzellan und Kochtöpfe zusammengesucht. Bei unserem Nachbarn konnten wir die Dinge in den Geschäftsräumen erst einmal unterstellen. Doch für mich dann der Schreck: Ich musste meinen Teddybär beim Ausräumen verloren haben. Ich weinte bitterlich. Der Teddybär war doch mein ein und alles. Zum Glück hatte ich ihn im Schnee doch wiedergefunden. Das ganze große Haus ist dann runtergebrannt. Holzbalken brachen durch und das Haus brach allmählich zusammen.“